Julius Plenz – Blog

Bookdump

Es hat sich mal wieder einiges angesammelt:

Robert A. Caro: The Power Broker – die monumentale Biographie einer Person und der Stadt, die er wesentlich prägte. Ich hatte vorher den Namen noch nie gehört, und war auch noch nie in New York City. Es ist mehr als beeindruckend zu lesen, wie ein so außergewöhnlicher Mensch sich durch politische Einflussnahme, Intelligenz, Willensstärke und Ausnutzung trivial scheinender Gesetzeslücken auf nicht-demokratische Weise in einem demokratischen System zum de-facto Alleinbestimmer über Bauvorhaben emporhebt und so die Realität des New Yorker Alltagslebens ganz entschieden bestimmt. (Achtung: Das Buch hat 1300 Seiten und wiegt gute 1,5kg, eignet sich daher nur bedingt zum Herumtragen…)

Auf Drängen eines Freundes habe ich eines von Hannah Arendts zentralen theoretischen Werken gelesen, Vita Activa (engl. The Human Condition). Mir gefiel ihr Stil nicht wirklich: Zu viel versucht sie zu „beweisen“, indem sie etymologische Ursprünge von Wörtern im Griechischen untersucht, oder Wort-Zusammensetzungen in anderen Sprachen analysiert und den entsprechenden Konnotationen intrinsische Wahrheit über die Begriffe abzugewinnen versucht.

Hermann Hesses Roman Das Glasperlenspiel ist eines der behutsamsten, intellektuell durchkonstruiertesten Geschichten, die ich gelesen habe. Die Hingabe und Aufrichtigkeit, mit der Joseph Knecht seiner Aufgabe als Glasperlenspielmeister nachgeht, ist so beeindruckend und einfach „schön“, die ganze Welt Kastaliens so liebevoll und detailliert porträtiert, dass ich das Buch kaum weglegen wollte – bis ich zu den Anhängen, den fiktiven Lebensläufen Knechts kam: die ich nur noch halbherzig überflogen habe; zu stark kommen die buddhistischen, spirituellen, wiederkehr-und-ganzheits-philosophischen Gedanken durch, die mir immer (auch bei anderen Autoren) als ausweichend, nicht tief gehend und verklärend sauer aufstoßen. Schade. (Mein früherer Mitbewohner Sergej, damals Mathematiker ein dutzend Semester über mir, schwärmte immer von der Kohomologietheorie als einem „wahren Glasperlenspiel“ – und nach der Lektüre weiß ich endlich, was er damit immer meinte, und bin geneigt, ihm zuzustimmen.)

Ein bisschen später habe ich noch Hesses Demian gelesen. Auch eine wunderschöne Geschichte.

Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone – Schreibstil und Protagonist gefielen mir nicht so gut, aber die Lektüre belohnt: Hie und da blitzen pointierte gesellschaftskritische Passagen auf, die es in sich haben – und die ich zumindest so schnell nicht vergessen werde.

Einen Klassiker unter den Abenteuerbüchern, Jon Krakauers Bericht einer im Frühjahr 1996 katastrophal endenden Mount-Everest-Expedition mit dem überaus passenden Titel Into Thin Air, habe ich an einem Abend bei Schnee und -10°C Außentemperatur verschlungen: extrem spannend. Minutiös und mit geschultem Blick für lokale Verhältnisse erläutert Krakauer nicht nur den Aufstieg, sondern auch die (meist abseits der zahlenden Bergsteiger stattfindende) Planung, Hintergründe seiner Mit-Bergsteiger und stellt nicht zuletzt auf fesselnde Weise dar, wie sehr der Menschliche Körper in eisiger Kälte und viel zu dünner Luft den letzten Rest eingebildeter Rationalität vergisst – ohne dasselbe überhaupt mitzubekommen. Ihm kommt außerdem die schwere Aufgabe zu, als einer der Überlebenden einer Expedition, an deren summit push day insgesamt 10 Leute ihr Leben ließen, auch bei sich selbst und den anderen Beteiligten Fehler festzustellen – und zu reflektieren, wie es möglich ist, nach so einem Vorfall wieder zurück ins „normale Leben“ zu kehren. Unbedingte Lese-Empfehlung.

Die Blendung von Elias Canetti hatte ich schonmal mit 18 Jahren angefangen und nach 100 Seiten gähnend weggelegt. Beim neuerlichen Lesen war das Buch eigentlich ganz gut: Ein schwacher Mittelteil – mir zu viele vorhersehbare und übertriebene Kopfgeburten der Leute –, aber starker erster und letzter Teil. Kann man schon lesen.

Den neuen Roman von Umberto Eco, The Prague Cemetary, war nicht so mein Fall.

Jewgenij Samjatins 200-Seiter Wir erschien schon 1920, das heißt vor Huxleys Brave New World und Orwells 1984 – und ich muss dem Nachwort zustimmen:

Dennoch bestehen grundlegende Unterschiede zwischen den drei Werken. Samjatins prophetische Leistung steht weit über der der beiden andern: Als er seinen Roman schrieb, existierte der Totalitarismus erst im Embryonalzustand – als Huxley schrieb, hatte die monopolkapitalistische Rationalisierung in Amerika ihren ersten Höhepunkt erreicht (Ford), als Orwell schrieb, stand der Stalinismus im Zenit der Macht. Dafür konnten die beiden Engländer das Antlitz der modernen Welt präziser und pointierter zeichnen.

Mit der Entwicklungshilfe und -politik ist es ja so eine Sache: Wie soll man die „dritte Welt“ behandeln? Direkte Hilfe? Hilfe zur Selbsthilfe? In Ruhe lassen? Was hilft eigentlich wirklich? – Im Wesentlichen geht es bei Entwicklungshilfe, wenn sie nicht in Waffenlieferungen besteht, fast immer um Länder, deren Bevölkerung großteils extrem arm ist: Die Menschen, die von weniger als einem US-Dollar am Tag leben. Die beiden Wirtschafts-Professoren Duflo und Banerjee analysieren in ihrem Buch Poor Economics, wie Wirtschaft in „arm“ funktioniert: Es gibt keine Banken (warum nicht? wer verleiht das Geld und zu welchen Zinssätzen?); es gibt keine gesundheitlichen und sozialen Sicherungssysteme (wie sparen für den Notfall? was, wenn die Ernte verdirbt?); das Risiko des totalen Bankrotts ist immer imminent (wie damit umgehen?). – Kurz: Wirtschaft funktioniert ganz anders, wenn man so gut wie kein Geld hat. Die Frage, die sich natürlich stellt ist: Gibt es Möglichkeiten, Institutionen oder Policies zu schaffen, um diese Zustände zu verbessern? Duflo und Banerjee kritisieren die „Monokultur-Ansätze“ von J. Sachs („Mehr Geld behebt das Problem“) und W. Easterly („Keine Hilfe zu geben lässt zu, eigene Lösungen zu finden“), und bewegen sich von Fall zu Fall durch verschiedene Lösungsansätze konkreter Probleme und bewerten die Wirksamkeit. Das ist das Ziel des Buches:

This book is an invitation to think again, again: to turn away from the feeling that the fight against poverty is too overwhelming, and to start to think of the challenge as a set of concrete problems that, once properly identified and understood, can be solved one at a time.

Leseempfehlung für alle, die sich mit Entwicklungshilfe auseinandersetzen wollen.

In den vergangenen Monaten habe ich Jonathan Franzen für mich entdeckt: Zuerst habe ich Freedom gelesen: locker und leicht, aber doch genug Dilemma, damit das Panorama nicht allzu beiläufig wirkt. An einigen Stellen wirkte der Roman recht autobiographisch. Man vergleiche das folgende Textfragment aus Freedom

In a pocket of his khakis was a handful of coins that he took out and began to fling, a few at a time, into the street. He threw them all away, the pennies of his innocence, the dimes and quarters of his self-sufficiency. He needed to rid himself, to rid himself. He had nobody to tell about his pain […]. He was totally alone and didn’t understand how it had happened to him.

Mit diesem Bericht (Archiviert) einer Reise Franzens in Deutschland:

Real anger, anger as a way of life, was foreign to me until one particular afternoon in April 1982. I was on a deserted train platform in Hanover. I'd come from Munich and was waiting for a train to Berlin, it was a dark grey German day, and I took a handful of German coins out of my pocket and started throwing them on the platform. There was an element of anti-German hostility in this, because I'd recently had a horrible experience with a penny-pinching old German woman and it did me good to imagine other penny-pinching old German women bending down to pick the coins up, as I knew they would, and thereby aggravating their knee and hip pains. The way I hurled the coins, though, was more generally angry. I was angry at the world in a way I'd never been before.

Daraufhin habe ich eine seiner Essay-Kollektionen, How to be Alone, gelesen. Sehr zu empfehlen! Der Mann kann wirklich gut schreiben, und schämt sich auch nicht, seine Schwächen öffentlich zu diskutieren. Aus Mr. Difficult (dem lustigsten der Artikel, der aber doch ziemlich ernst ist):

It’s hard to consider literature a medicine, in any case, when reading it serves mainly to deepen your depressing estrangement from the mainstream …

Und dann habe ich noch zur Abrundung The Corrections gelesen. Ein Panorama ähnlich Freedom, aber so langsam habe ich genug davon. Ich hole mir lieber noch einen weiteren Essay-Band…

Es gibt so Klassiker, die ich nie lese, weil ich das Thema nicht ansprechend finde. So ging es mir mit Harper Lees To Kill a Mockingbird, bis ein Freund mir das Buch auslieh und meinte ich müsste es lesen. Und ja, das ist ein beendruckend schönes Buch mit ungeahnter moralischer Komplexität.

Ich wollte ins Theater gehen, denn es wurde Dostojewskis Der Spieler aufgeführt. Aber die Vorstellung wurde kurzzeitig abgesagt, und stattdessen wurde Die Wirtin gespielt. Leider konnte ich doch nicht zu der Vorstellung gehen, und die Geschichte hat mir auch nicht wirklich gut gefallen. Aber da das Buch nun schonmal aufgeschlagen war, habe ich Der ewige Gatte gelesen, und das ist eine der gelungensten Kurzgeschichten des Autors, wie ich finde.

Ich war eine Woche in Dubai und hatte nichts zu lesen dabei, also war ich dort einkaufen: Roberto Bolaño: Woes of the true Policeman – Interessant vor allem für Leute, die 2666 gemocht haben (für die Biographie Arc(h)imboldis) – aber vielleicht auch als eigenständige (Fragment-)Lektüre insteressant. – Ernest Hemingway: A Farewell to Arms, nicht so sehr beeindruckend. Aber eine schöne Ausgabe mit 47 alternativen Enden. – Gustave Flaubert: Madame Bovary, die Geschichte startet so schön schnell: Junge schafft Studium nicht, dann doch, dann Heirat, dann Tod der bösen Frau, dann neue Heirat – und das alles in den ersten Kapiteln. Aber dann zieht sich die Handlung über die nächsten hundert Seiten so dermaßen, dass ich irgendwann keine Lust mehr drauf hatte. Ich bin vielleicht auch nicht die Zielgruppe.

Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht – hätte man etwas kürzer, dafür aber besser machen können. Mehr meta.

Ich habe mich endlich mal an Thomas Mann gemacht. Die Buddenbrooks fand ich ziemlich langatmig, und an vielen Stellen zu kalt und distanziert, wenig einfühlsam, obwohl doch bewusst persönliches Drama geschildert werden sollte. Als Charakterisierung und Beschreibung des Niedergangs einer Familie aber natürlich meisterhaft. (Nachtrag 2014-05-21: Musil schreibt 1905 in sein Tagebuch: „Statt dessen las ich die Buddenbrocks [sic]. Sehr fein und langweilig; vielleicht meisterlich al fresco – aber langweilig; mitunter überraschend souverän.“)

Reiseliteratur neu definiert haben soll Bruce Chatwins Bericht über eine Expedition ins südliche Südamerika, In Patagonia. Ich war wenig beeindruckt, leider: Eine Aneinanderreihung von Geschichten und Begegnungen, aber keine davon hat mich wirklich berührt. Etwas Abenteuer ist natürlich auch dabei:

‘You could break a leg,’ she said, ‘or get lost and we’d have to send a search party. We used to ride it in a day, but you can’t get a horse through now.’

And all because of the beavers. A governor of the island brought the beavers from Canada and now their dams choked the valleys where once the going was clear. But still I wanted to walk the track.

Dazu in der ZEIT: Der Biberkrieg, wie die Biberplage in Feuerland eingedämmt werden soll.

Ich habe mich auch an James Joyce versucht: A Portrait of the Artist as a Young Man. Also damit konnte ich ja mal überhaupt nichts anfangen. Und noch ein Stück Weltliteratur, die ich irgendwie gar nicht verstehe: Gabriel García Márquez, Hundert Jahre Einsamkeit. Alle Leute heißen gleich, und ich kann mit der Geschichte gar nichts anfangen.

posted 2014-04-27 tagged bookdump