Ich habe unter der Woche Bernd Ulrichs Streitschrift Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muss. vom Oktober 2011 gelesen. Das Buch war für mich unter mehreren Aspekten interessant. Einerseits beleuchtet es die Hintergründe der Kriege, die ich damals als Kind noch nicht mitbekommen habe – den Namen UÇK kannte ich zwar aus den Nachrichten, wusste aber damit nichts zu verbinden – und bietet so eine gute Perspektive auf die jüngere Deutsche Geschichte, gerade auch in Hinblick auf die Auswirkungen der Wiedervereinigung auf die geopolitische Sicherheitslage Europas und der Welt, sowie das politische Selbstbewusstsein Deutschlands. Andererseits meldet sich hier aus der Generation meiner Eltern ein Kriegsdienstverweigerer und ehemaliger Mitarbeiter des Fraktionsvorstandes der Grünen im Deutschen Bundestag zu Wort, der mittlerweile stellvertretender Chefredaktuer und Leiter des Politik-Ressorts der Zeit ist.
Das ganze ist flüssig zu lesen, aber natürlich kontrovers – und das soll es ja auch sein. Zunächst muss gesagt werden, dass das Buch eine Reihe interessanter Einsichten enthält, die auch sehr treffend ausformuliert sind. Über die Tatsache, dass sich in der deutschen Bevölkerung nur sehr schwierig eine stabile Mehrheit für einen Einsatz der Bundeswehr finden lässt, bemerkt er ganz richtig (S. 53):
Hinzu kommt ein ganz profaner Umstand. In Deutschland finden unablässig irgendwelche Wahlen statt, weshalb eine kriegführende Bundesregierung einem andauernden Plebiszit ausgesetzt ist, das sie nur überstehen kann, solange andere als die militärischen Fragen wahlentscheidend sind.
Und weiter:
Die Regierung wird infolgedessen dazu tendieren, die Fragen von Krieg und Frieden möglichst nicht zu thematisieren, ja, ihre Thematisierung aktiv zu verhindern.
Eine weitere interessante Beobachtung stellt Ulrich über die "spezielle Verbindung" zwischen Deutschland und Israel an (S. 73):
In der wachsenden Distanz zu Israel und in die zunehmende Skepsis gegen Militäreinsätze hinein bringt nun die Merkel-Doktrin Deutschland näher an einen Militäreinsatz für Israel. Hier liegt eine enorme latente Spannung.
Schaut man auf das Inhaltsverzeichnis, so kann man das Buch in einige wesentliche Thesen zusammenfassen:
Meine Generation, also die zur Zeit des Niedergangs der DDR oder nach dem Mauerfall Geborenen, sind in meinen Augen sehr pazifistisch eingestellt, und das ist gut so. Rundheraus würde ich sagen: Krieg ist immer falsch.
Leider stimmt das nicht. Ja, wenn man an all die Kriege denkt, die Amerika so geführt hat im Südosten Asiens, oder wie die Kriege in Afghanistan und dem Irak laufen: das ist abgrundtief falsch. – Andererseits muss man sich immer wieder den Ruandischen Genozid vor Augen halten, und die damalige Passivität der UN. Dadurch, dass westliche Mächte nicht eingegriffen haben, obwohl sie ziemlich gut wussten, dass ein riesiger Völkermord passierte, das ist unverantwortlich. – Wenn man sagt "Krieg ist in keinem Fall tragbar", dann öffnet man dem Kulturrelativismus Tür und Tor. Profan ausgedrückt, sagt man: "Lass die Anderen doch mit sich selbst klarkommen. Wenn sie sich abschlachten, dann ist das nicht mein Problem, und nicht einmal notwendigerweise falsch." – eine solche Einstellung ist sehr, sehr gefährlich. Von daher ist für den Pazifisten die Fragestellung, ob es überhaupt legitime Kriege gibt, eine sehr viel schwierigere, als sie auf den ersten Blick scheint.
Im Nachhinein kann man möglicherweise sagen, dass der Einsatz der Bundeswehr als Teil des NATO-Bündnisses in Libyen gerechtfertigt gewesen wäre. Der Einsatz ist mittlerweile beendet, und der Aufbau des Landes kann beginnen. Wenn ein Präsident die Luftwaffe gegen das eigene Volk einsetzt, dann sollte es schwer sein, wegzuschauen. – Natürlich muss man sich überlegen, wer denn die Machtposition Gaddafis über Jahrzehnte gefestigt hat. Aber man kann und darf die Frage nach militärischer Intervention nicht mit einer antiimperialistischen Floskel à la "hätten wir nicht X gemacht ... wäre nicht Y passiert" abtun. Dort sterben Leute.
Ich tue mich auch schwer in der Frage, zumal ich von einer anderen Prämisse ausgehe, was die Situation zugegebenermaßen leichter macht: Ich empfinde nichts für das Staatenkonstrukt Deutschland. Deutsche Kultur, insbesondere die deutsche Sprache und Literatur, sowie klassische Musik bedeutet mir etwas – das geht aber über Staatengrenzen hinaus. Der Großteil von Deutschland – das heißt, alles außerhalb von Hamburg und Berlin – bedeutet mir nichts, ganz einfach nichts. Ich habe da schließlich nie gelebt. Aber ohne die Grundlage von konstruierten Staaten, die gemeinsam agieren, entfällt natürlich die Notwendigkeit zur Verantwortung gegenüber anderen Staaten – es bleibt die Verantwortung von Menschen gegenüber anderen Menschen, und dort sind die Menschenrechte ein ziemlich allgemein akzeptierter Konsens.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Buch einige spannende Einsichten, auch in das Wirken von Presse und Politik, bereit hält. Und es ist beeindruckend zu sehen, wie ein ehemaliger überzeugter pazifistischer Aktivist heute Kriege zu legitimieren versucht.