Julius Plenz – Blog

Der Umstieg zu Neo

Vor einem Jahr habe ich angefangen, mit dem Neo-Layout statt wie vorher mit dem US-QWERTY-Layout zu tippen. Von den für mich sehr hilfreichen Erfahrungsberichten von Umsteigern geleitet – in deren Liste ich mich hiermit auch einreihen will – habe ich während meines Umstiegs in den ersten Tagen recht regelmäßig Protokoll geführt.

Tag 1 (12.08.): Wow, ich fühle mich komplett hilflos vor meinem eigenen Rechner. Für jeden Satz, den ich tippen will, brauche ich eine Minute und mehr. Passwörter einzugeben ist der Horror. Jede Tastenkombination, die sonst einfach „drin“ ist, geht voll ins Leere, besonders in Vim bekomme ich gar nichts hin; ich spiele sogar ein paar Configs kaputt, weil ich unabsichtlich die alte Taste „k“ drücke, aber da liegt nun „r“ wie „replace“. Ich habe eine erste Mail geschrieben (aber auf Kiswahili, d.h. mit untypischen Buchstabenanordnungen) – alles ist so anstrengend!

Tag 2 (13.08.): Mit viel Müh und Not kann ich mittlerweile tmux und Vim rudimentär bedienen. Die Wörter tröpfeln mittlerweile vor sich hin, manche Trigramme kommen schon ganz flüssig raus. Wenn ich nicht am Computer sitze, tippe ich teilweise unbewusst in Gedanken Wörter vor mich hin; wird mir das bewusst, dann bemühe ich mich, in Neo zu denken. In der Theorie kann ich zumindest die ersten zwei Ebenen auswendig, muss aber teilweise noch mehrere Sekunden überlegen, bevor ich lostippen kann. Für die dritte Ebene blende ich bei Bedarf den NeoLayoutViewer ein. Ab und zu bricht meine Konzentration plötzlich ein und ich tippe fünf Mal nacheinander auf die gleiche falsche Taste, bis ich mich zusammenreiße und nachdenke. – Alles in allem ist es sehr, wie eine neue Sprache zu lernen…

Tag 3 (14.08.): Alles geht ein bisschen besser und flotter. Nichts geht wirklich fehlerfrei. Heute habe ich bachelorarbeitsbedingt qualvoll langsam getext, und ich muss sagen: Den wirklichen Vorteil sehe ich da nicht – auf einer US-Belegung sind die wichtigen Sonderzeichen mindestens genau so gut zu erreichen… (Aktuelle Geschwindigkeit: 63 Tasten pro Minute.)

Tag 4 (15.08.): Horror: sieben Stunden bei der Arbeit, und ich bekomme nichts hin, alles dauert ewig. Keine Lust, mehr zu schreiben.

Tag 5 (16.08.): Noch ein Tag Arbeit. Irgendwie geht alles, aber gefühlt konnte ich vor zwei Tagen noch sicherer und schneller tippen…

Tag 9 (21.08.): Nachdem ich das Wochenende über nicht viel vorm Rechner saß, musste ich mich zu Beginn der Woche doch mal wieder an die Bachelorarbeit setzen. Mittlerweile bin ich nicht mehr so ganz gefrustet, und manche (selbst lange) Wörter schreiben sich schon wirklich flüssig. Das wird schon. (Mittlerweile ca. 120 KPM.)

Tag 14 (26.08.): Stichtag: Bis heute hatte ich mir Zeit gegeben, um zu entscheiden, ob ich weiter Neo tippen will. Ich würde das Experiment nicht als „gescheitert“ ansehen, aber ich bin mit 140 Tasten pro Minute noch weit hinter dem, was ich mit QWERTY geschafft habe. Diverse Di- und Trigramme kommen mittlerweile sehr flüssig – aber ich habe das Gefühl, dass ich doch irgendwie jedes Wort ein paar Mal tippen muss, bis ich es wirklich kann. Morgen wird es ernst, denn da veranstalte ich eine Schulung und muss zwei Tage lang am Beamer tippen…

Tag 104 (23.11.): Das Muscle Memory ist schon lange da: Ich kann mich nicht mehr erinnern, wo die Tasten vorher lagen, ganz natürlich finden meine Finger Tag für Tag ihren Weg. Ich vertippe mich gefühlt selten, aber meine Schreibgeschwindigkeit ist mit ca. 330 Anschlägen pro Minute noch immer erst bei ca. 2/3 meiner Geschwindigkeit von vor dem Umstieg.

Was ich schon früh zu schätzen gelernt habe ist die Mod4-Taste, die die vierte Ebene aktiviert: Hier kann man ohne umzugreifen mit den Cursor-Tasten navigieren, an den Anfang und das Ende der Zeile springen sowie Zeichen löschen. Das nutze ich sehr häufig auch in Vim im Insert-Mode, was ja normalerweise nicht als „die reine Lehre“ angesehen wird: Mit NEO muss man aber nicht umgreifen und die Homerow verlassen, so dass es viel schneller als ein zweifacher Mode-Wechsel ist. – Überhaupt Vim: Ich hätte nie gedacht – und das war auch der einzige Grund, warum ich nicht schon mal früher Dvorak gelernt habe – dass man Vim auch mit komplett umgestellten Tasten bedienen kann. Ich navigiere selbst häufig mit hjkl, auch wenn die Buchstaben denkbar merkwürdig dafür angeordnet sind. Man gewöhnt sich an alles. :-)

Tag 372 (19.08.): Vor ziemlich genau einem Jahr bin ich umgestiegen – und mittlerweile habe ich meine alte Tipp-Geschwindigkeit von knapp 470 Tasten pro Minute wieder erreicht. Das scheint nicht wirklich ein Fortschritt zu sein – zumindest auf den ersten Blick. Allerdings glaube ich, dass ich insgesamt schneller, besser und ergonomischer tippe: ich schaue nie mehr auf die Tastatur, ich muss für Pfeiltasten, Backspace, Escape und ähnliche Sequenzen Dank der Mod4-Taste meine Finger nur minimal bewegen. Insgesamt bin ich also ziemlich zufrieden mit meinem Umstieg.

Ein paar Anmerkungen zum Lernen:

Ein paar technische Bemerkungen zum Neo-Layout:


Ich möchte abschließend noch eine etwas philosophische Dimension dieses Umstieges thematisieren. Der Satz »Der Mensch gewöhnt sich an Alles« ist tiefgehender, als man denken könnte. Mir ist es innerhalb von wenigen Wochen gelungen, eine meiner zentralen Tätigkeiten komplett anders auszuüben. Dass das am Anfang frustrierend ist – und diese Notizen haben mich jetzt noch einmal ziemlich klar daran erinnern lassen, wie genervt ich war – ist natürlich zu erwarten. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Genau wie die Anordnung der Buchstaben auf der Tastatur ziemlich arbiträr ist, und man von einer Anordnung auf die andere wechseln kann, weil keine der beiden eine inhärente „Wahrheit“ über Buchstaben und sprachliche Sätze enthält – genau so kann man auch Sprachen, Grammatiken, Denksysteme wechseln. Ich zum Beispiel sehe nun die Buchstaben K und H als ziemlich ähnlich an, weil ich sie mit dem gleichen Finger tippe und mich oft vertippt habe. Andere Leute können das vermutlich nicht nachvollziehen, und objektiv betrachtet ist mein Ähnlichkeitsgefühl auch absurd. Und doch lassen sich Effekte von Sprachverarbeitung auf die Realitätswahrnehmung feststellen.

Ich bin der Meinung, dass genau dieses Umwerfen gewisser fest geglaubter, aber tatsächlich arbiträrer Grundsätze ganz wichtig dafür ist, geistig nicht so schnell zu altern. Ein paar Ideen:

Oder, mit den Worten des Aphorismus Nr. 552 aus Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches I, betitelt Das einzige Menschenrecht:

Wer vom Herkömmlichen abweicht, ist das Opfer des Außergewöhnlichen; wer im Herkömmlichen bleibt, ist der Sklave desselben. Zu Grunde gerichtet wird man auf jeden Fall.

posted 2013-08-19 tagged neo, linux and life