Julius Plenz – Blog

Ulysses

Ich war kürzlich zum ersten Mal in Dublin, und das war Grund genug, mich endlich einmal mit dem modernistischen Epos Ulysses von James Joyce auseinanderzusetzen. Anstatt hier aber zu schreiben: ja, es ist ziemlich anstrengend zu lesen – ja, ohne kapitelweise Sekundär-Zusammenfassungen hätte ich kaum etwas verstanden – ja, es ist sprachgewaltig und auch ziemlich witzig – ja, es ist ein stilistisches und formales Kunstwerk – ja, das war mein zweiter und letzter Versuch, ein Joyce-Fan zu werden und nein, ich werde die anschließend von ihm verfassten Monströsitäten nicht angehen ––

Anstatt also zu wiederholen, was man überall liest, hier im Folgenden der Versuch, zwei zentrale Werke des Modernismus einander gegenüber zu stellen und in Beziehung zu setzen: Ulysses versus Der Mann ohne Eigenschaften. Beide Werke sind recht umfangreich, was aber ja nicht unbedingt abschreckend ist: nur sind sie auch beide kompliziert und sperrig. Joyces Werk nicht so sehr aufgrund der Handlung, sondern der Form: Selten wird der Leser an die Hand genommen, immer muss man aus dem Dialog den Kontext erraten oder bekommt nur rohe Gedanken serviert. Bei Musil wird hingegen ständig reiteriert und Kontext gegeben, mit einer sprachlicher Brillianz die seinesgleichen sucht: nur sind die Gedanken sehr diffiziler philosophisch-dialektischer Natur.

Beide Werke haben eine interessante Gemeinsamkeit: sie sind, ganz in modernistischer Manier, exakt konstruiert in der Zeitspanne, die sie abdecken (– die Form bestimmt den Rahmen): Ulysses ist die Geschichte eines einzigen Tages in Dublin, während der Mann ohne Eigenschaften genau ein Jahr in Wien verlebt (streng genommen: verleben würde, wenn das Buch je zu Ende geschrieben worden wäre). Im letzteren Fall ist ganz klar, wann die Handlung stattfindet, denn das Buch beginnt mit folgendem ersten Absatz:

Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.

Bei Joyce muss man arg suchen, wenn man wissen will, an welchem Tag die Handlung spielt: Man schreibt das mittlerweile als Bloomsday bekannte und gefeierte Datum des 16. Juni 1904 – das wird aber, abgesehen von kurz vor Schluss, nirgends klar kommuniziert. Man kann sich diese Information zum Beispiel aus den folgenden Fragmenten aus Kapitel drei und vier zusammenstückeln, tief in wirren Gedankengängen vergraben:

He took the hilt of his ashplant, lunging with it softly, dallying still. Yes, evening will find itself in me, without me. All days make their end. By the way next when is it Tuesday will be the longest day. Of all the glad new year, mother, the rum tum tiddledy tum. Lawn Tennyson, gentleman poet. … (Dedalus musing in 3.489)

He listened to her licking lap. Ham and eggs, no. No good eggs with this drouth. Want pure fresh water. Thursday: not a good day either for a mutton kidney at Buckley's. Fried with butter, a shake of pepper. Better a pork kidney at Dlugacz's. While the kettle is boiling. She lapped slower, then licking the saucer clean. Why are their tongues so rough? To lap better, all porous holes. Nothing she can eat? He glanced round him. No. (Bloom in 4.43)

Wir haben es also mit einem Donnerstag fünf Tage vor dem längsten Tag der nördlichen Hemisphäre, dem 21. Juni, zu tun. Welches Jahr? Na ja, da gäbe es mehrere Möglichkeiten: Der 16. Juni fiel zwischen den Jahren 1880 und 1920 auf einen Donnerstag in: 1881, 1887, 1892, 1898, 1904, 1910, sowie 1921. Andere Hinweise?

He faced about and, standing between the awnings, held out his right hand at arm's length towards the sun. Wanted to try that often. Yes: completely. The tip of his little finger blotted out the sun's disk. Must be the focus where the rays cross. If I had black glasses. Interesting. There was a lot of talk about those sunspots when we were in Lombard street west. Looking up from the back garden. Terrific explosions they are. There will be a total eclipse this year: autumn some time. (Bloom thinking in 8.564)

Aber Wikipedia sagt interessanterweise: „There was no Total Solar Eclipse visible from the United Kingdom between 1724 and 1925.“ – Schließlich aber, im vorletzten Kapitel (auch wenn das Datum ab der Mitte an verschiedenen Stellen, aber nicht eindeutig zuordenbar auftaucht) wird es explizit: „Compile the budget for 16 June 1904.“ (17.1456)


Beide Werke erwähnen wiederholt Nietzsche als Philosophen oder Teile seiner Werke: In Ulysses wird mehrmals aus Zarathustra zitiert; Ulrich schenkt Clarisse zu ihrer Hochzeit eine Gesamtausgabe von Nietzsche. Ein ganz zentrales Moment Nietzsche’scher Philosophie ist die auf die griechischen Götter Apollo und Dionysos zurückgehende Dialektik apollinisch-dionysisch. Was bedeutet dionysisch? Das Handwörterbuch der Philosophie erklärt das Wort wie folgt:

Von Dionysos, dem griech. Gott des Weines: neben dem Apollinischen die Personifizierung eines der beiden die Geschicke der Welt lenkenden Prinzipien bei Nietzsche. Während das Apollinische für das Streben nach Begrenzung, nach Maß und Gestalt steht, verkörpert das Dionysische den Drang ins Ungebundene, das Rauschhafte und Ausufernde, das, was die Grenzen aufhebt, die Form zerstört und das Gestalthafte in den Weltgrund zurückwirft.

Während die apollinische Betrachtungsweise also die der Wissenschaft, die der exakten Beschreibung und Klassifizierung, schließlich der Rationalität ist, ist die die dionysische eine des Trunkenen, Orgiastischen: Der Urzustand des Menschen spricht aus dem Un- und Unterbewussten.

Dies führt mich zur folgendenden, zentralen These: Die Herangehensweise Musils ist inhärent apollinisch, während die von Joyce ein meisterhaftes Beispiel für das Dionysische ist. Als Beispiel möchte ich hier eine Szene anführen, die in beiden Büchern beiläufig vorkommt: Männlicher Protagonist trifft ihm unbekannte Frau in der Öffentlichkeit und hat ein spontanes sexuelles Verlangen nach ihr. Nebeneinander gelesen sind diese Ausschnitte hervorragende Beispiele für die Idiosynkrasie der jeweiligen Erzähltechniken.

In Ulysses (4.145) ist Bloom gerade auf dem Weg, für sein Frühstück Leber vom Fleischer zu besorgen:

A kidney oozed bloodgouts on the willowpatterned dish: the last. He stood by the nextdoor girl at the counter. Would she buy it too, calling the items from a slip in her hand? Chapped: washingsoda. And a pound and a half of Denny's sausages. His eyes rested on her vigorous hips. Woods his name is. Wonder what he does. Wife is oldish. New blood. No followers allowed. Strong pair of arms. Whacking a carpet on the clothesline. She does whack it, by George. The way her crooked skirt swings at each whack.

[…]

The porkbutcher snapped two sheets from the pile, wrapped up her prime sausages and made a red grimace.

—Now, my miss, he said.

She tendered a coin, smiling boldly, holding her thick wrist out.

—Thank you, my miss. And one shilling threepence change. For you, please?

Mr Bloom pointed quickly. To catch up and walk behind her if she went slowly, behind her moving hams. Pleasant to see first thing in the morning. Hurry up, damn it. Make hay while the sun shines. She stood outside the shop in sunlight and sauntered lazily to the right. He sighed down his nose: they never understand. Sodachapped hands. Crusted toenails too. Brown scapulars in tatters, defending her both ways. The sting of disregard glowed to weak pleasure within his breast. For another: a constable off duty cuddling her in Eccles lane. They like them sizeable. Prime sausage. O please, Mr Policeman, I'm lost in the wood.

—Threepence, please.

His hand accepted the moist tender gland and slid it into a sidepocket. Then it fetched up three coins from his trousers' pocket and laid them on the rubber prickles. They lay, were read quickly and quickly slid, disc by disc, into the till.

—Thank you, sir. Another time.

A speck of eager fire from foxeyes thanked him. He withdrew his gaze after an instant. No: better not: another time.

—Good morning, he said, moving away.

—Good morning, sir.

No sign. Gone. What matter?

He walked back along Dorset street, reading gravely. […]

Joyce verbalisiert einfach nur das im Kopf Stattfindende, mit all der damit einhergehenden Sprunghaftigkeit, Ungeduldigkeit und vor allem Unreflektiertheit: Wäre es nicht interessant zu untersuchen, wie aus einem sting of disregard innerhalb von Momenten eine Art Verlangen wird? All das interessiert aber offenbar nicht, und außerdem muss er ja bezahlen. Und schon sind die Gedanken wieder woanders, und er liest im Nachhausegehen…

Musil hingegen benutzt eine ganz ähnlich zufällige Begegnung, um – durchaus als Ablenkung, vorher wird ein ganz anderer Gedankengang gesponnen – um zu reflektieren, wie die Nächstenliebe eigentlich ein heuchlerisches Konzept ist, und überhaupt: warum mag man überhaupt Menschen, ohne dass man sie wirklich gut kennt?! Das liest sich dann aber, wie man so schön sagt, „wie gedruckt“ (3. Teil, Kap. 23):

[… es] fehlte seinem Denken bereits die Absicht, eine Entscheidung zu suchen, und er ließ sich bereitwillig ablenken. In seiner Nähe waren gerade zwei Männer zusammengestoßen und riefen sich unangenehme Bemerkungen zu, als wollten sie handgemein werden, woran er mit erfrischter Aufmerksamkeit teilnahm, und als er sich kaum davon abgewandt hatte, stieß sein Blick mit dem einer Frau zusammen, der wie eine fette, auf dem Stengel nickende Blume war. In jener angenehmen Laune, die sich zu gleichen Mengen aus Gefühl und nach außen gerichteter Aufmerksamkeit mischt, nahm er Kenntnis davon, daß die ideale Forderung, seinen Nächsten zu lieben, unter wirklichen Menschen in zwei Teilen befolgt wird, deren erster darin besteht, daß man seine Mitmenschen nicht leiden kann, während das der zweite dadurch wettmacht, daß man zu ihrer einen Hälfte in sexuelle Beziehungen gerät. Ohne zu überlegen, kehrte auch er nach wenigen Schritten um, der Frau zu folgen; es geschah noch ganz mechanisch als Folge der Berührung durch ihren Blick. Er sah ihre Gestalt unter dem Kleid wie einen großen weißen Fisch vor sich, der nahe der Wasseroberfläche ist. Er wünschte sich, ihn männlich zu harpunieren und zappeln sehen zu können, und es lag darin ebensoviel Abneigung wie Verlangen. An kaum merklichen Zeichen wurde ihm auch Gewißheit, daß diese Frau von seinem Hinterdreinstreichen wisse und es billige. Er suchte zu ermitteln, auf welchen Platz sie in der gesellschaftlichen Schichtung gehören möge, und riet auf höheren Mittelstand, wo es schwer ist, die Stellung genau zu bestimmen. »Kaufmannsfamilie? Beamtenfamilie?« fragte er sich. Aber verschiedene Bilder tauchten willkürlich auf, darunter sogar das einer Apotheke: er fühlte den scharf-süßen Geruch an dem Mann, der nach Hause kommt; die kompakte Atmosphäre des Heims, der nichts mehr von den Zuckungen anzumerken ist, unter denen sie kurz vorher die Diebslampe eines Einbrechers durchleuchtet hat. Ohne Zweifel war das abscheulich und doch ehrlos lockend.

Und während Ulrich weiter hinter der Frau herging und in Wahrheit fürchtete, daß sie vor einer Auslage stehen bleiben und ihn zwingen werde, entweder blöde weiterzustolpern oder sie anzusprechen, war irgendetwas immer noch unabgelenkt und hellwach in ihm. »Was mag eigentlich Agathe von mir wollen?« […]

Ähnlich wie Proust ist Musil ein Autor, der wie mit einem Spot-Scheinwerfer ganz bestimmte Winkel einer sehr weiten Zeitspanne ausleuchtet: Nur nebenbei wird das Jahr des Urlaubs chronologisiert, meist dient dies nur als Überleitung zu einer Situation, die es Musil (in Gestalt von Ulrich, meist denkend alleine oder im Quasimonolog) erlaubt, mehrere Dutzend Seiten bei einem Gedankengang zu verharren. Ulysses ist hier die Antithese, hier gehen große sozialphilosophische Thesen einfach unter, weil es nachts ist und alle Gesprächsteilnehmer sturzbetrunken sind:

BLOOM: I stand for the reform of municipal morals and the plain ten commandments. New worlds for old. Union of all, jew, moslem and gentile. Three acres and a cow for all childern of nature. Saloon motor hearses. Compulsory manual labour for all. All parks open to the public day and night. Electric dishscrubbers. Tuberculosis, lunacy, war and mendicancy must now cease. General amnesty, weekly carnival with masked licence, bonuses for all, esperanto the universal language with universal brotherhood. No more patriotism of barspongers and dropsical impostors. Free money, free rent, free love and a free lay church in a free lay state.

(Anschließend fängt Bloom an zu singen und jemand schmeißt einen Schuh nach ihm. Wobei das vielleicht auch nur in Gedanken passiert, man weiß das nicht so genau. Zugehört hat ihm in jedem Fall niemand so wirklich.) –

Schließlich ist neben dem Gegensatz Apollinisch–Dionysisch ein weiteres zentrales Motiv der Philosophie Nietzsches die unbedingte und nicht immer rationalisierbare Bejahung des Lebens, ein ständiges und insistierendes Ja-Sagen zum Leben – eine im Kern anti-nihilistische Haltung. Joyce lässt Ulysses ganz bewusst mit dem Wort “Yes” enden (auch wenn die Intention dahinter zugegebenermaßen nicht unbedingt lebensbejahned ist: statt dessen komplettiert das Wort laut eines Briefen von Joyce an Frank Budgen den das Kapitel durchziehenden verbalen Symbolismus für das Weibliche). – Im Gegensatz dazu erschafft der Mann ohne Eigenschaften eine große philosophische Apparatur, um die Lebensbejahung zu rationalisieren – tut dann aber nicht den entscheidenden Schritt der Verwirklichung: Das Buch bleibt unvollendet.

posted 2015-08-15 tagged bookdump

Bookdump

Es ist eine Weile her seit dem letzten Artikel, und auch wenn ich hauptsächlich Mathematik getrieben habe, hat sich viel angesammelt.

Überraschend informativ und einfach zu lesen ist Foucaults Überwachen und Strafen, und natürlich aktueller denn je.

Die Essaysammlung Arguably von Christopher Hitchens ist ein nettes Sammelsurium, mit einigen sehr beeindruckenden Beiträgen. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass Hitchens sich zu der Zeit, als die Praxis des Waterboarding gerade in die öffentliche Wahrnehmung gezerrt wurde, selbst dieser Foltermethode unterzogen hatte – um einfach zu erfahren, wie sich das angefühlt – und darüber berichten zu können.

Als ein sehr mathematisch motivierter Autor gilt J. L. Borges. Dessen Kurzgeschichtensammlung Labyrinths hat mir gut gefallen, auch wenn sich die mathematischen Aspekte seiner Literatur zumindest in dieser Auswahl meist darauf reduzieren, die inhärenten Paradoxa von Rekursion und Unendlichkeit zu verarbeiten. Er ist aber ein Autor, der das Träumen glorifiziert und immer wieder die Grenzen der Erkenntnis ausleuchtet, wie zum Beispiel in Avatars of the Tortoise:

‘The greatest magician (Novalis has memorably written) would be the one who would cast over himself a spell so complete that he would take his own phantasmagorias as autonomous appearances. Would not this be our case?’ I cojecture that this is so. We (the undivided divinity operating within us) have dreamt the world. We have dreamt it as firm, mysterious, visible, ubiquitous in space and durable in time; but in its architecture we have allowed tenuous and eternal crevices of unreason which tell us it is false.

Beeindruckt war ich von Henry Thoreau, dem amerikanischen Naturalisten, der mit Walden ein Werk geschafft hat, was schon vor der Industrialisierung den „Ausstiegsgedanken“ geprägt hat, und die philosophischen und praktischen Aspekte eines Lebens fernab der Gesellschaft, alleine im Wald und als Selbstversorger erläutert:

But I would say to my fellows, once for all, As long as possible live free and uncommitted. It makes but little difference whether you are committed to a farm or the county jail.

Seinen ernährungstechnischen Ansichten stehe ich teils sympathisch gegenüber (wenn auch nicht in der Begründung) –

I believe that every man who has ever been earnest to preserve his higher or poetic faculties in the best condition has been particularly inclined to abstain from animal food, and from much food of any kind.

– seine Ansichten zu Wein und Kaffee aber teile ich nicht:

I believe water is the only drink for a wise man; wine is not so noble a liquor; and think of dashing the hopes of a morning with a cup of warm coffee, or of an evening with a dish of tea!

Faulkner: As I Lay Dying – Boah, also so concious-stream-narrative kann ich mal gar nicht ab.

Ayn Rand: The Fountainhead – Das Buch ist wie ein Verkehrsunfall: So schrecklich es auch ist, man kann nicht wegschauen. Ich habe selten ein Buch gelesen, in dem die Prosa so arg schlecht ist und die Charaktere so dermaßen holzschnittig gezeichnet sind. Damals muss ein unglaubliches soziales Klima geherrscht haben, dass so ein Buch Erfolg haben konnte. Trotzdem fesselnd. Und: Keine Illustration der Bauwerke wird der dahinter stehenden Idee gerecht. (An dieser Stelle möchte ich auf das Blog eines guten Freundes von mir linken: cncrt abstraction beschäftigt sich mit Brutalismus-Architektur, was glaube ich der Essenz der Bauwerke Howard Roarks nicht allzu fern liegt.)

Über alle Maßen gelobt unter den klassischen Sci-Fi-Autoren ist natürlich Philipp K. Dick. Zum Einstieg VALIS zu lesen war vermutlich nicht die beste Entscheidung, ist es doch eher dem Spätwerk zuzuordnen und sehr autobiografisch. Viel besser haben mir dann die Three Stigmata of Palmer Eldrich gefallen, ziemlich halluzinatorisch-dystopisch, mir alles in Allem aber nicht konkret und anschaulich genug. Ein weiterer Klassiker, Kurt Vonneguts Slaughterhouse-five, gefiel mir halbwegs gut, aber schön, dass es so kurz war. Dass der Erzähler ständig in Zeit und Raum springt hat mich an Hilsenraths „Märchen vom letzten Gedanken“ erinnert.

Sehr beeindruckt war ich von Jean-Paul Sartres Nausea (dt.: Der Ekel):

… The past is a property-owners’s luxury.

Where should I keep mine? You can’t put your past in your pocket; you have to have a house in which to store it. I possess nothing but my body; a man on his own, with nothing but his body, can’t stop memories; they pass through him. I shouldn’t complain: all I have ever wanted was to be free.

Davon angespornt habe ich auch The Age of Reason gelesen, war aber nach der Hälfte richtiggehend angenervt und habe den Rest nur noch überflogen. Zu den französischen Existentialisten gehört natürlich auch Camus, aber sein Mythos des Sisyphos ist zwar gut und nett, aber literarisch verpackt kann ich mit solcher Philosophie mehr anfangen.

Tom Wolfe schreibt so ein bisschen wie Jonathan Franzen. The Bonfire of the Vanities war eine beeindruckend vielschichtige Geschichte, liebevoll konstruiert, aber eben auch so ein Momentanpanorama-Epos.

Manchmal gehen einem die Bücher aus, und dann muss man nehmen, was man kriegt. So war ich auf der Insel Palawan darauf angewiesen, mich bei einem Australier und einem Kanadier, die sich beide dort zur Ruhe gesetzt hatten und gebrauchte Bücher für einen Euro pro Stück von ihrer Veranda verkauften, einzudecken: Noch ein bisschen spannend ist Stephen Leather: Hungry Ghost, aber nur noch pathetisch und schlecht ist Morris West: Summer of the Red Wolf. Einen noch mir noch unbekannten Krimi von Ian Rankin, A Question of Blood, fand ich dort auch, sowie John le Carrés Absolute Friends, von dem ich aber jetzt schon nicht mehr sagen könnte, worum es eigentlich ging.

Ab und zu muss man auch Bücher lesen, die in die Hosentasche passen. Henry James hat mit The Turn of the Screw eine nette Horrorgeschichte geschaffen, die glücklicherweise schnell zum Punkt kommt. Auf Verdacht habe ich Andre Gide: The Immoralist gekauft, und hätte mehr Immoralität erwartet.

Wenn Krimis oder Thriller weltweit auf einmal überall auftauchen, dann ist das ein Indiz, dass sie zumindest spannend sind. Gillian Flynn: Gone Girl ist es auch, aber ein so dermaßen schlechtes Ende, das tat schon weh. Die Buchverfilmung, die ich direkt im Anschluss gesehen habe, hat mir nicht gut gefallen.

Schon häufiger ist es mir passiert, dass ich ein Buch las, über das Kritiker schrieben: »full of ideas … grand in scope« – und ich fand eine Geschichte vor, die höchstens beeindruckend war ob der aussagelosen Weitläufigkeit des Textes, in anderen Worten: Es sind häufig Geschichten, die besser Exposition oder Kurzgeschichte geblieben wären. Über Zia Haider Rahmans Debutroman In the Light of What We Know bin ich gestolpert aufgrund des Zitates von Alex Preston auf dem Cover: »The novel I’d hoped Jonathan Franzen’s ›Freedom‹ would be.« – Ja, in typischer »Grand Scope«-Manier ist ein Leitmotiv des Buches der Gödelsche Unvollständigkeitssatz (abstrakt! Mathematik und Logik!), aber wo andere Bücher daraus Realweltanalogien gebastelt hätten, die unweigerlich lächerlich erscheinen für einen jeden, der ein wenig Mathematik studiert hat, tritt in verschiedenen Situationen der Vater des Protagonisten, seines Zeichens Physikprofessor, auf, zitiert mehrfach Richard Feynman und erläutert außerdem erschöpfend, dass keine Analogie jemals den Tatsachen gerecht wird. – Neben vielen anderen Themen, die der Roman behandelt, ist das zentrale Thema aber auf geradezu frappierend exakte Weise bereits vom Titel erschöpfend behandelt: Die Realität lässt sich nicht ansatzweise so kontrollieren, wie die Mathematik es zulässt: nachträglich erlangtes Wissen kann die damals als korrekt eingestufte Bewertung einer Situation abstrus verkehren – während ein mathematischer Beweis nunmal stimmt oder nicht. Auch sehr interessant ist das Buch, weil es Einblicke in Welten gibt, die den meisten Menschen verschlossen bleiben. Diese Kritik fasst es gut zusammen:

It is a novel that displays a formidable familiarity with élite knowledge, and takes for granted a capacity for both abstract and worldly thinking.

Daniel Suarez: Influx – Schon spannend aber auch ein bisschen flach und vorhersehbar.

F. Scott Fitzgerald: The Great Gatsby – so ein Klassiker. Kann man, muss man aber nicht. Wie ich höre, veranstaltet man heutzutage (wieder?) „Gatsby-Partys“…

Wenn ein Autor es schafft, einen allgemein bekannten Ismus zu prägen, dann ist es meist ratsam, zumindest ein bisschen was im Original gelesen zu haben. (Beispiel: Darwinismus. Aber Achtung: Fast alle Kommunisten haben ihren eigenen Ismus, und nur weil der Trotzkyismus ein paar Anhänger hat, heißt das noch nicht, dass man Trotzky lesen muss.) – Worauf ich hinaus will: Wenn jemand es schafft, den Begriff Sadismus zu prägen, der so sehr eigenes Wort ist, das kaum noch jemand den Autor dahinter kennt, dann ist das doch interessant zu erforschen, wer de Sade war. Und so habe ich mich also hingesetzt – nicht zuletzt motiviert durch Adorno&Horkheimers Behandlung des Themas – und zwei zentrale Werke des Marquis de Sade gelesen: Zuerst Justine, oder die Leiden der Tugend, das nach 500 Seiten mit einem geradezu epischen cliff-hanger aufhört; gefolgt von der Weiterführung der Erzählung, diesmal aus der Sicht der Schwester: Juliette, oder die Vorteile des Lasters. – Die Justine ist leider etwas repetitiv und wäre interessanter, wenn sie halb so lang wäre. Die Juliette aber hat mit knapp 300 Seiten eine gute Länge. Beide Romane sind kurz vor dem Übergang 18./19. Jahrhundert entstanden, das heißt sehr lange Zeit bevor Amoralität, Egoismus, Atheismus sowie Anti-Christianismus, und natürlich: das offene Reden über sexuelle Akte jeglicher Art und Coleur salonfähige Themen waren (wenn sie es das überhaupt jemals waren; sagen wir: literaturfähig, man denke daran, dass selbst Lolita keinen Verleger in den USA fand, dann im „liberalen Frankreich“ über einen eher wenig seriösen Verlag publiziert wurde, kurze Zeit später aber für zwei Jahre lang dort verboten war – und das war in den Neunzehnhundertfünfzigerjahren!). – Nun also, de Sade schafft etwas, was ich nicht für möglich gehalten hätte: Man schlage ein beliebiges der beiden Bücher zufällig auf und lese 20 Seiten – und diese zwanzig Seiten stellen jeden Hardcore-Scat-BDSM-Snuff-Porno in den Schatten (– gibt es sowas in der Kombination überhaupt?). Wenn die ältere Generation sagt: „Aber die heutige Jugend ist so verroht!“ (Stichworte: Killerspiele, Gewaltvideos, Pornokonsum), dann sage ich: Wenn wir eines sind, dann sind wir – historisch gesehen – ziemlich zivilisiert in der gesamtgesellschaftlichen Ausgestaltung unserer Sexual-, Gewalt- und Tötungsphantasien. Wirklich.

Gabriel Garcia Marquez: Die Liebe in den Zeiten der Cholera. Etwas ausladend, aber gut.

Ich wohne jetzt in Sydney, und um ein bisschen Trivia-Kenntnisse zu erlangen habe ich Bill Bryson: Down Under gelesen: Lustig und informativ. – Aber ein wirklich unglaubliches Buch ist Bruce Chatwins Bericht The Songlines über seine Reise durch das australische Outback auf den Spuren der mündlich überlieferten Tradition der Aboriginies. Ja, es ist anekdotisch und die Textgestalt ist ab der Mitte durch Exzerpte aus seinen Notizbüchern recht eigenwillig; auch sollte man seiner Theorie über den Mensch als ursprünglich nomadisch eine gewisse Skepsis entgegenbringen. Aber interessant und thought-provoking ist dieses Buch in jedem Fall.

Roberto Bolaño: Third Reich. Mehr alte Werke werden ausgegraben…

Cormac McCarthy: The Road. – Hat mich eine Nacht lang wach gehalten.

posted 2015-07-06 tagged bookdump

Bookdump

Es ist eine ganze Weile vergangen, und ich habe sicherlich schon wieder ein paar vergessen…

Bei der Neuerscheinung von Noam Chomskys How the World Works handelt es sich um eine Kollektion von ein paar alten Texten und aufbereiteten Interviews aus den 1990er Jahren. Zwei Exzerpte:

Recall that about ten years ago, when David Stockman [director of the Office of Management and Budget in the early Reagan years] was kicked out, he had some interviews with economic journalist William Greider. There Stockman pretty much said that the idea was to try to put a cap on social spending, simply by debt. There would always be plenty to subsidize the rich. But they wouldn’t be able to pay aid to mothers with dependent children—only aid to dependent corporate executives.

Und:

You still find plenty of poor, uneducated people smoking; in fact, tobacco has become such a lower-class drug that some legal historians are predicting that it will become illegal. Over the centuries, when some substance became associated with “the dangerous class,” it’s often been outlawed. Prohibition of alcohol in [the US] was, in part, aimed at working-class people in New York City saloons and the like. The rich kept drinking as much as they wanted.

William S. Burroughs vielgefeiertes Naked Lunch – Na, zum Glück war das Buch so kurz. Einfach nur bizarr. Ich mag schon eigentlich ganz gerne, wenn eine Art von Geschichte erzählt wird. – Besser gefiel mir da schon Jack Kerouacs On The Road, aber wirklich bewegt hat es mich auch nicht.

Dave Eggers: The Circle – Das liest man so an einem Sonntag weg. Nett geschrieben und die Handlung gut vorhersehbar, aber es ist ein jetzt aktuelles Zeitgeist-Portrait und wird als solches in ein paar Jahren vermutlich seine Aktualität verloren haben.

James C. Scott: Seeing Like a State – Ein Agrarwissenschaftler verliert sich für ein paar Jahre in einem Thema, das ziemlich interessant ist, und fasst seine Erkenntnisse in einem sehr zugänglichen Sachbuch zusammen. Das Buch ist ein Aufruf, Diversität zu zelebrieren, und Lokales Wissen (insbesondere im Kontext indigener Völker) zu respektieren, erhalten und aktiv zu verwenden. Grundthema des Buches ist die „legibility of a population“, für die man soziale und Umwelt-Verhältnisse normalerweise metrisiert, das heißt in vergleichbaren Zahlen ausdrückt (Hektar Norm-Wald, Bildungs-Index, Populationsquerschnitt, etc.). Scott untersucht einige Beispiele eingehender, und die Schlussfolgerung lässt sich in etwa wie folgt zusammenzufassen: „Die Metrik ist nicht nur zu simpel, sie ist so simpel, dass sie der Bevölkerung aktiv schadet und neue, dieser Metrik angepasste Realitäten kreiert.“ – Lesenswert, wenn man sich für so ein Thema begeistern kann.

Nachdem ich Huxley noch einmal gelesen hatte, musste ich zum Vergleich auch noch mal Orwells Roman 1984 lesen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass Huxley „mehr“ Recht hat in unserer momentanen Entwicklung – aber man muss Orwell zugute halten, dass seine Erfindung von „Newspeak“ sehr vorausschauend und auch heute noch hochaktuell ist.

David Benioffs Bestseller Stadt der Diebe ist ein schönes Buch über eine Freundschaft in Zeiten des Krieges – aber auf gewisse Weise ein Weltkriegsbuch, das sehr an andere seit den 2000ern erschienen Romane zu diesem Thema erinnert. Es ist eine gewisse Leichtigkeit darin, die vorher nicht möglich war, aber keinesfalls mehr neu ist.

Per Petterson: Out Stealing Horses – Ein überraschend schöner Roman. Ferienliteratur, finde ich. – Für Khaleed Hosseinis Roman A Thousand Splendid Suns bin ich glaube ich doch ein bisschen die falsche Zielgruppe. Mich hat das Buch auf jeden Fall nicht so sehr berührt, und es bleibt beim Lesen ein fader Beigeschmack ähnlich wie wenn man als Tourist in „exotischen Ländern“ das Kreuzfahrtschiff für ein paar Stunden verlässt, und auf die oberflächlichst mögliche Weise eine „Kultur kennen lernt“. –

Glenn Greenwald: No Place to Hide ist ein wichtiges Buch. Wenn man die Enthüllungen ein bisschen verfolgt hat, kennt man schon einen großen Teil des dargestellten Bildes (aber Microsoft kommt wirklich ganz schön schlecht weg). Die ersten 90 Seiten über die Kontaktaufnahme mit Snowden sind der reinste Krimi. Der letzte Teil ist ein wenig zu viel Rumgeheule von Greenwald.

Thomas Pynchon: Gravity’s Rainbow – Was soll man zu dem Buch bloß sagen…? Die ersten dreihundert Seiten sind komplett verwirrend. Gegen Mitte scheint sich ein kohärenter Plot zu entwickeln – aber das lässt schnell wieder nach. Ab Seite 700 war ich nur noch darüber wütend, was für eine Zeitverschwendung das Buch sei. Die Witze sind anfangs vielleicht noch zum Schmunzeln… aber irgendwann reicht’s dann auch, und „witzige Situationen“ wie die folgende: Eine Frau wird ausgeraubt, hat aber einen Sprachdefekt und kann keine Umlaute aussprechen, und ruft statt „Hübsch Räuber“ – ja, man errät es, „Hubsch Rauber“, „Hubschrauber“, haha, was dann jemanden ein paar Häuser weiter (es ist 1920, niemand weiß was ein Hubschrauber ist…), der zufällig Aerodynamik studiert (ah!), dazu veranlasst, etwas zu tun – naja, eine solche Situation finde ich nur noch lustig, weil es so schlecht erzwungen ist.

Zugestehen muss man Pynchon aber, dass er über eine schier unglaubliche Allgemeinbildung verfügen muss. Das Buch driftet mitunter in Richtungen ab, die komplett unerwartet kommen: An einem Nachmittag sitze ich in einem kleinen Park in Neukölln am Lesen, und plötzlich spielt die Geschichte auch in Neukölln – das ist schon ziemlich verrückt, und ein bisschen frage ich mich, ob ich nicht einen Großteil der Referenzen nicht verstanden habe. Und auch ein relativ unbekannter Aspekt der deutschen Kolonialgeschichte, der Genozid der Herero durch deutsche Kolonialherren im heutigen Namibia – für den sich die deutsche Bundesregierung im Übrigen bis heute noch nicht verantwortlich fühlt – spielt eine nicht unbedeutende Rolle.

Max Frisch: Homo FaberJohn Williams: Stoner, ein wirklich beeindruckendes weil unprätentiöses Buch. – Kazuo Ishiguro: Never Let Me Go, hatte ich schon als Film gesehen, daher kam es mir die ganze Zeit bekannt vor. Nicht wirklich zu empfehlen… – Cynan Jones: The Long Dry, einer von den „Neuentdeckungen“, aber mich hat’s nicht so mitgenommen. – Ned Vinzinni: It’s kind of a funny story, da war ich auch nicht ganz die richtige Zielgruppe, aber es beleuchtet einen wichtigen Punkt: Die Angst vor dem Versagen, die wir schon jungen Erwachsenen einbläuen. – Hubert Selby Jr.: The Room – Damit konnte ich nichts anfangen. – Hermann Hesse: Siddhartha – Jaja, mythologisch-romantisch… aber nicht sein bestes Werk. – Strugatski: Der Montag fängt am Samstag an, kann man lesen. Muss man aber nicht.

Angeregt von Franzens Essay Mr Difficult, habe ich William Gaddis’ Roman The Recognitions gelesen… Mir hat’s gut gefallen, auch wenn es an einigen Stellen arg verwirrend war – man könnte zum Beispiel erwähnen, dass der vollkommen passive Hauptcharakter nach ca. einem Drittel des Buches seinen Namen verliert (vergisst?), und so die wörtliche Rede, die sowieso nur mit Gedankenstrichen angedeutet wird und nicht indiziert, wer redet, noch unüberschaubarer wird, weil der Protagonist entweder gar nicht mehr direkt, oder nur mit „my dear fellow“ angeredet wird. Insgesamt liest sich das Buch wie eine 50er-Jahre-Hipster-Party, durchsetzt von unauflöslichem, allgemeinen Weltzweifel – gespickt mit einer guten Portion christlichem Mystizismus.

Um mich ein bisschen zu bilden, habe ich auch einen der Kurzgeschichtenbände der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro gelesen: Runaway gefiel mir gut, vor allem, weil nicht immer ganz klar war, wie sehr die Geschichten nun wirklich zusammenhängen.

Robert Charles Wilson: Spin – Das hat mich eine ganze Nacht wachgehalten. Sehr spannend. Mehr Science Fiction? Ein Freund schenkte mir Richard Morgans Altered Carbon, das auch empfehlenswert ist.

Eine Neueentdeckung für mich war Knut Hamsun: Ich habe Hunger und anschließend die Mysterien gelesen. Erinnert mich ein bisschen an Dostojewski, nur halt nicht so russisch.

Den Tod Frank Schirrmachers habe ich als herben Verlust empfunden. Ich habe aus jedem seiner Feuilleton-Artikel neue Denkanstöße mitnehmen können. Ähnlich ging es mir mit Ego – Spiel des Lebens, definitiv lesenswert, vor allem aufgrund der historischen Perspektive, die es bietet.

Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wie ich dazu kam, mir ein klassisches Tennis-Selbsthilfe-Buch auf meine Liste zu schreiben. Aber auch außerhalb von Tennis (oder Sport überhaupt) bietet W. Timothy Gallweys 100-Seiter The Inner Game of Tennis gute Ratschläge: „Zu viel Nachdenken ist hinderlich für Exzellenz.“

Ein Freund interessiert sich dafür, wie man fernöstliche Ideen mit westlicher Philosophie verbinden kann und hat mir Alan Watts geschenkt, Das Tao der Philosophie. Ich finde den Stil zu sehr wie eine aufgezeichnete Radioansprache, die auch Erna (83) aus Norderstedt verstehen soll.

Über alle Maßen beeindruckt war ich hingegen von Adorno/Horkheimers Werk Dialektik der Aufklärung. Dialektik ist ein ziemlich facettenreicher Begriff, aber beim Lesen dieses Textes habe ich das erste Mal meisterhafte Dialektiker bei der Arbeit sehen können. Man muss allerdings sagen, dass der Text nicht einfach zu lesen ist. Ich musste dauernd Wörter nachschlagen, und das bisweilen unnötigerweise, denn die Autoren benutzen hochgestochene Begriffe wie Fungibilität und Usance, anstatt einfach Austauschbarkeit und Eigenschaft. Auch tendieren sie dazu, Sätze sehr kompliziert zu schachteln und Prozesse zu subjektifizieren, so dass man häufig zweimal nachdenken muss, was gemeint ist – dann wird man aber belohnt. Kostprobe gefällig?

In der Reduktion des Denkens auf mathematische Apparatur ist die Sanktion der Welt als ihres eigenen Maßes beschlossen. Was als Triumph subjektiver Rationalität erscheint, die Unterwerfung alles Seienden unter den logischen Formalismus, wird mit der gehorsamen Unterordnung der Vernunft unters unmittelbar Vorfindliche erkauft. Das Vorfindliche als solches zu begreifen, den Gegebenheiten nicht bloß ihre abstrakten raumzeitlichen Beziehungen abzumerken, bei denen man sie dann packen kann, sondern sie im Gegenteil als die Oberfläche, als vermittelte Begriffsmomente zu denken, die sich erst in der Entfaltung ihres gesellschaftlichen, historischen, menschlichen Sinnes erfüllen – der ganze Anspruch der Erkenntnis wird preisgegeben.

Ich hatte kurz vorher die Odyssee gelesen, insofern gefiel mir auch besonders der Exkurs über die Dialektik von Mythos und Aufklärung am Beispiele von Odysseus. Was ich mich frage ist: Inwieweit hat Homer diese Dialektik durchschaut? Es ließ sich für mich aus dem Text nicht herauslesen, ob die Autoren Homers Text neu interpretieren, oder ihm nur etwas ablesen, dessen Tiefgründigkeit bisher nicht als solche erkannt wurde.

posted 2014-10-26 tagged bookdump

Bookdump

Es hat sich mal wieder einiges angesammelt:

Robert A. Caro: The Power Broker – die monumentale Biographie einer Person und der Stadt, die er wesentlich prägte. Ich hatte vorher den Namen noch nie gehört, und war auch noch nie in New York City. Es ist mehr als beeindruckend zu lesen, wie ein so außergewöhnlicher Mensch sich durch politische Einflussnahme, Intelligenz, Willensstärke und Ausnutzung trivial scheinender Gesetzeslücken auf nicht-demokratische Weise in einem demokratischen System zum de-facto Alleinbestimmer über Bauvorhaben emporhebt und so die Realität des New Yorker Alltagslebens ganz entschieden bestimmt. (Achtung: Das Buch hat 1300 Seiten und wiegt gute 1,5kg, eignet sich daher nur bedingt zum Herumtragen…)

Auf Drängen eines Freundes habe ich eines von Hannah Arendts zentralen theoretischen Werken gelesen, Vita Activa (engl. The Human Condition). Mir gefiel ihr Stil nicht wirklich: Zu viel versucht sie zu „beweisen“, indem sie etymologische Ursprünge von Wörtern im Griechischen untersucht, oder Wort-Zusammensetzungen in anderen Sprachen analysiert und den entsprechenden Konnotationen intrinsische Wahrheit über die Begriffe abzugewinnen versucht.

Hermann Hesses Roman Das Glasperlenspiel ist eines der behutsamsten, intellektuell durchkonstruiertesten Geschichten, die ich gelesen habe. Die Hingabe und Aufrichtigkeit, mit der Joseph Knecht seiner Aufgabe als Glasperlenspielmeister nachgeht, ist so beeindruckend und einfach „schön“, die ganze Welt Kastaliens so liebevoll und detailliert porträtiert, dass ich das Buch kaum weglegen wollte – bis ich zu den Anhängen, den fiktiven Lebensläufen Knechts kam: die ich nur noch halbherzig überflogen habe; zu stark kommen die buddhistischen, spirituellen, wiederkehr-und-ganzheits-philosophischen Gedanken durch, die mir immer (auch bei anderen Autoren) als ausweichend, nicht tief gehend und verklärend sauer aufstoßen. Schade. (Mein früherer Mitbewohner Sergej, damals Mathematiker ein dutzend Semester über mir, schwärmte immer von der Kohomologietheorie als einem „wahren Glasperlenspiel“ – und nach der Lektüre weiß ich endlich, was er damit immer meinte, und bin geneigt, ihm zuzustimmen.)

Ein bisschen später habe ich noch Hesses Demian gelesen. Auch eine wunderschöne Geschichte.

Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone – Schreibstil und Protagonist gefielen mir nicht so gut, aber die Lektüre belohnt: Hie und da blitzen pointierte gesellschaftskritische Passagen auf, die es in sich haben – und die ich zumindest so schnell nicht vergessen werde.

Einen Klassiker unter den Abenteuerbüchern, Jon Krakauers Bericht einer im Frühjahr 1996 katastrophal endenden Mount-Everest-Expedition mit dem überaus passenden Titel Into Thin Air, habe ich an einem Abend bei Schnee und -10°C Außentemperatur verschlungen: extrem spannend. Minutiös und mit geschultem Blick für lokale Verhältnisse erläutert Krakauer nicht nur den Aufstieg, sondern auch die (meist abseits der zahlenden Bergsteiger stattfindende) Planung, Hintergründe seiner Mit-Bergsteiger und stellt nicht zuletzt auf fesselnde Weise dar, wie sehr der Menschliche Körper in eisiger Kälte und viel zu dünner Luft den letzten Rest eingebildeter Rationalität vergisst – ohne dasselbe überhaupt mitzubekommen. Ihm kommt außerdem die schwere Aufgabe zu, als einer der Überlebenden einer Expedition, an deren summit push day insgesamt 10 Leute ihr Leben ließen, auch bei sich selbst und den anderen Beteiligten Fehler festzustellen – und zu reflektieren, wie es möglich ist, nach so einem Vorfall wieder zurück ins „normale Leben“ zu kehren. Unbedingte Lese-Empfehlung.

Die Blendung von Elias Canetti hatte ich schonmal mit 18 Jahren angefangen und nach 100 Seiten gähnend weggelegt. Beim neuerlichen Lesen war das Buch eigentlich ganz gut: Ein schwacher Mittelteil – mir zu viele vorhersehbare und übertriebene Kopfgeburten der Leute –, aber starker erster und letzter Teil. Kann man schon lesen.

Den neuen Roman von Umberto Eco, The Prague Cemetary, war nicht so mein Fall.

Jewgenij Samjatins 200-Seiter Wir erschien schon 1920, das heißt vor Huxleys Brave New World und Orwells 1984 – und ich muss dem Nachwort zustimmen:

Dennoch bestehen grundlegende Unterschiede zwischen den drei Werken. Samjatins prophetische Leistung steht weit über der der beiden andern: Als er seinen Roman schrieb, existierte der Totalitarismus erst im Embryonalzustand – als Huxley schrieb, hatte die monopolkapitalistische Rationalisierung in Amerika ihren ersten Höhepunkt erreicht (Ford), als Orwell schrieb, stand der Stalinismus im Zenit der Macht. Dafür konnten die beiden Engländer das Antlitz der modernen Welt präziser und pointierter zeichnen.

Mit der Entwicklungshilfe und -politik ist es ja so eine Sache: Wie soll man die „dritte Welt“ behandeln? Direkte Hilfe? Hilfe zur Selbsthilfe? In Ruhe lassen? Was hilft eigentlich wirklich? – Im Wesentlichen geht es bei Entwicklungshilfe, wenn sie nicht in Waffenlieferungen besteht, fast immer um Länder, deren Bevölkerung großteils extrem arm ist: Die Menschen, die von weniger als einem US-Dollar am Tag leben. Die beiden Wirtschafts-Professoren Duflo und Banerjee analysieren in ihrem Buch Poor Economics, wie Wirtschaft in „arm“ funktioniert: Es gibt keine Banken (warum nicht? wer verleiht das Geld und zu welchen Zinssätzen?); es gibt keine gesundheitlichen und sozialen Sicherungssysteme (wie sparen für den Notfall? was, wenn die Ernte verdirbt?); das Risiko des totalen Bankrotts ist immer imminent (wie damit umgehen?). – Kurz: Wirtschaft funktioniert ganz anders, wenn man so gut wie kein Geld hat. Die Frage, die sich natürlich stellt ist: Gibt es Möglichkeiten, Institutionen oder Policies zu schaffen, um diese Zustände zu verbessern? Duflo und Banerjee kritisieren die „Monokultur-Ansätze“ von J. Sachs („Mehr Geld behebt das Problem“) und W. Easterly („Keine Hilfe zu geben lässt zu, eigene Lösungen zu finden“), und bewegen sich von Fall zu Fall durch verschiedene Lösungsansätze konkreter Probleme und bewerten die Wirksamkeit. Das ist das Ziel des Buches:

This book is an invitation to think again, again: to turn away from the feeling that the fight against poverty is too overwhelming, and to start to think of the challenge as a set of concrete problems that, once properly identified and understood, can be solved one at a time.

Leseempfehlung für alle, die sich mit Entwicklungshilfe auseinandersetzen wollen.

In den vergangenen Monaten habe ich Jonathan Franzen für mich entdeckt: Zuerst habe ich Freedom gelesen: locker und leicht, aber doch genug Dilemma, damit das Panorama nicht allzu beiläufig wirkt. An einigen Stellen wirkte der Roman recht autobiographisch. Man vergleiche das folgende Textfragment aus Freedom

In a pocket of his khakis was a handful of coins that he took out and began to fling, a few at a time, into the street. He threw them all away, the pennies of his innocence, the dimes and quarters of his self-sufficiency. He needed to rid himself, to rid himself. He had nobody to tell about his pain […]. He was totally alone and didn’t understand how it had happened to him.

Mit diesem Bericht (Archiviert) einer Reise Franzens in Deutschland:

Real anger, anger as a way of life, was foreign to me until one particular afternoon in April 1982. I was on a deserted train platform in Hanover. I'd come from Munich and was waiting for a train to Berlin, it was a dark grey German day, and I took a handful of German coins out of my pocket and started throwing them on the platform. There was an element of anti-German hostility in this, because I'd recently had a horrible experience with a penny-pinching old German woman and it did me good to imagine other penny-pinching old German women bending down to pick the coins up, as I knew they would, and thereby aggravating their knee and hip pains. The way I hurled the coins, though, was more generally angry. I was angry at the world in a way I'd never been before.

Daraufhin habe ich eine seiner Essay-Kollektionen, How to be Alone, gelesen. Sehr zu empfehlen! Der Mann kann wirklich gut schreiben, und schämt sich auch nicht, seine Schwächen öffentlich zu diskutieren. Aus Mr. Difficult (dem lustigsten der Artikel, der aber doch ziemlich ernst ist):

It’s hard to consider literature a medicine, in any case, when reading it serves mainly to deepen your depressing estrangement from the mainstream …

Und dann habe ich noch zur Abrundung The Corrections gelesen. Ein Panorama ähnlich Freedom, aber so langsam habe ich genug davon. Ich hole mir lieber noch einen weiteren Essay-Band…

Es gibt so Klassiker, die ich nie lese, weil ich das Thema nicht ansprechend finde. So ging es mir mit Harper Lees To Kill a Mockingbird, bis ein Freund mir das Buch auslieh und meinte ich müsste es lesen. Und ja, das ist ein beendruckend schönes Buch mit ungeahnter moralischer Komplexität.

Ich wollte ins Theater gehen, denn es wurde Dostojewskis Der Spieler aufgeführt. Aber die Vorstellung wurde kurzzeitig abgesagt, und stattdessen wurde Die Wirtin gespielt. Leider konnte ich doch nicht zu der Vorstellung gehen, und die Geschichte hat mir auch nicht wirklich gut gefallen. Aber da das Buch nun schonmal aufgeschlagen war, habe ich Der ewige Gatte gelesen, und das ist eine der gelungensten Kurzgeschichten des Autors, wie ich finde.

Ich war eine Woche in Dubai und hatte nichts zu lesen dabei, also war ich dort einkaufen: Roberto Bolaño: Woes of the true Policeman – Interessant vor allem für Leute, die 2666 gemocht haben (für die Biographie Arc(h)imboldis) – aber vielleicht auch als eigenständige (Fragment-)Lektüre insteressant. – Ernest Hemingway: A Farewell to Arms, nicht so sehr beeindruckend. Aber eine schöne Ausgabe mit 47 alternativen Enden. – Gustave Flaubert: Madame Bovary, die Geschichte startet so schön schnell: Junge schafft Studium nicht, dann doch, dann Heirat, dann Tod der bösen Frau, dann neue Heirat – und das alles in den ersten Kapiteln. Aber dann zieht sich die Handlung über die nächsten hundert Seiten so dermaßen, dass ich irgendwann keine Lust mehr drauf hatte. Ich bin vielleicht auch nicht die Zielgruppe.

Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht – hätte man etwas kürzer, dafür aber besser machen können. Mehr meta.

Ich habe mich endlich mal an Thomas Mann gemacht. Die Buddenbrooks fand ich ziemlich langatmig, und an vielen Stellen zu kalt und distanziert, wenig einfühlsam, obwohl doch bewusst persönliches Drama geschildert werden sollte. Als Charakterisierung und Beschreibung des Niedergangs einer Familie aber natürlich meisterhaft. (Nachtrag 2014-05-21: Musil schreibt 1905 in sein Tagebuch: „Statt dessen las ich die Buddenbrocks [sic]. Sehr fein und langweilig; vielleicht meisterlich al fresco – aber langweilig; mitunter überraschend souverän.“)

Reiseliteratur neu definiert haben soll Bruce Chatwins Bericht über eine Expedition ins südliche Südamerika, In Patagonia. Ich war wenig beeindruckt, leider: Eine Aneinanderreihung von Geschichten und Begegnungen, aber keine davon hat mich wirklich berührt. Etwas Abenteuer ist natürlich auch dabei:

‘You could break a leg,’ she said, ‘or get lost and we’d have to send a search party. We used to ride it in a day, but you can’t get a horse through now.’

And all because of the beavers. A governor of the island brought the beavers from Canada and now their dams choked the valleys where once the going was clear. But still I wanted to walk the track.

Dazu in der ZEIT: Der Biberkrieg, wie die Biberplage in Feuerland eingedämmt werden soll.

Ich habe mich auch an James Joyce versucht: A Portrait of the Artist as a Young Man. Also damit konnte ich ja mal überhaupt nichts anfangen. Und noch ein Stück Weltliteratur, die ich irgendwie gar nicht verstehe: Gabriel García Márquez, Hundert Jahre Einsamkeit. Alle Leute heißen gleich, und ich kann mit der Geschichte gar nichts anfangen.

posted 2014-04-27 tagged bookdump

Musil

Ich habe in den letzten drei Monaten alle veröffentlichten Werke von Robert Musil gelesen, sowie zwei kleine Bücher mit Tagebuchfragmenten und Briefen des Autors. Irgendwie habe ich die Lektüre noch nicht in Gänze verarbeitet; aber vielleicht hilf es ein wenig, darüber zu schreiben, um ein bisschen zu beleuchten, was mich an diesem Autor fasziniert.

Man kommt bei Musil nicht umhin, ihn für seinen Stil zu loben: Wie mathematisch-präzise, wie realistisch! Niemals wird ein Ding ver-klärt, um es zu er-klären – lieber wird auf eine genaue Charakterisierung verzichtet zugunsten einer rigorosen, aber bruchstückhaften, teilweise zu keinem eindeutigen Schluss kommenden Behandlung.

Der Stil ist aber für Musil nur Mittel zum Zweck:

Ich wäre dem Publikum sehr dankbar, wenn es weniger meine ästhetischen Qualitäten beachten würde und mehr meinen Willen. Stil ist für mich die exakte Herausarbeitung eines Gedankens.

Musil ist generell sehr anstrengend zu lesen, und die Bücher liegen mir auch Monate nach der Lektüre noch sperrig im Kopf; ich konnte mir bisher kein abschließendes Urteil zu dem literarischen Werk dieses Autors bilden. Daher muss es an dieser Stelle genügen, ein paar Gedanken und Zitate zu den Büchern aufzulisten, in der Reihenfolge, in der ich sie gelesen habe.

Der Mann ohne Eigenschaften

Lang, in der Mitte fast einschläfernd, aber besonders im Nachhinein ein unglaubliches Buch. Die Präzision, mit der Musil schreibt, ist beeindruckend: Gedanken, die ich selbst schon wage hatte, werden dort so detailliert und umfassend dargestellt, dass ich mehrere Kapitel wieder gelesen habe und teilweise nach Tagen noch ein mir im Kopf herumspukendes Zitat rausgeschrieben habe. Wäre es nicht so lang, würde ich es gleich noch einmal lesen.

Die Hauptperson des Buches, der Mathematiker und Philosoph Ulrich, ist ein Charakter, der mir selbst sehr ähnlich scheint. Das ständige Es-könnte-auch-anders-sein, das sich immer Wiederholende Suchen nach strukturellen Gründen, nach ursprünglichen Prinzipien, die sich bei näherer Betrachtung als Trugschlüsse erweisen – dieses Ohne-Eigenschaften-Sein – aber in einem positiven Sinne! – trifft auch auf mich zu. Die Dinge passieren um uns, und wir werden geformt: nicht umgekehrt.

Ein Paradestück der Analyse ist zum Beispiel dieser Abschnitt aus dem Kapitel 34, Ein heißer Strahl und erkaltete Wände:

Im Grunde wissen in den Jahren der Lebensmitte wenig Menschen mehr, wie sie eigentlich zu sich selbst gekommen sind, zu ihren Vergnügungen, ihrer Weltanschauung, ihrer Frau, ihrem Charakter, Beruf und ihren Erfolgen, aber sie haben das Gefühl, daß sie betrogen worden seien, denn man kann nirgends einen zureichenden Grund dafür entdecken, daß alles gerade so kam, wie es gekommen ist; es hätte auch anders kommen können; die Ereignisse sind ja zum wenisten von ihnen selbst ausgegangen, meistens hingen sie von allerhand Umständen ab, von der Laune, dem Leben, dem Tod ganz anderer Menschen, und sind gleichsam bloß im gegebenen Zeitpunkt auf sie zugeeilt. So lag in der Jugend das Leben noch wie ein unerschöpflicher Morgen vor ihnen, nach allen Seiten voll von Möglichkeiten und Nichts, und schon am Mittag ist mit einemmal etwas da, das beanspruchen darf, nun ihr Leben zu sein, und das ist im ganzen doch so überraschend, wie wenn eines Tags plötzlich ein Mensch dasitzt, mit dem man zwanzig Jahre lang korrespondiert hat, ohne ihn zu kennen, und man hat ihn sich ganz anders vorgestellt.

Vergleiche auch die Fabel Kafkas Über die Einengung der Maus, in der die Katze sagt: „Du musst doch bloß die Laufrichtung ändern!“ – Der Abschnitt geht weiter mit:

Noch viel sonderbarer aber ist es, daß die meisten Menschen das gar nicht bemerken; sie adoptieren den Mann, der zu ihnen gekommen ist, dessen Leben sich in sie eingelebt hat, seine Erlebnisse erscheinen ihnen jetzt als der Ausdruck ihrer Eigenschaften, und sein Schicksal ist ihr Verdienst oder Unglück.

Im Nachhinein bleibt vor allem das Antiklimaktische des Buches hängen: Musil sagte selbst über den Roman: „Die Geschichte dieses Romans kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird.“

Warum passierte denn nichts, warum fing Ulrich nichts mit seinen so wohldurchdachten Erkenntnissen an? Aber auch diese Frage wird ja beantwortet im Gespräch mit Agathe:

»Weshalb sind wir denn keine Realisten?« fragte sich Ulrich. Sie waren es beide nicht, weder er noch sie, daran ließen ihre Gedanken und Handlungen längst nicht mehr zweifeln; aber Nihilisten und Aktivisten waren sie, und bald das eine bald das andere, je nachdem wie es kam.

Gott ist tot: Das Nietzsche’sche Denken durchtränkt das Buch (explizit bei Clarisse; praktischer und struktureller bei Ulrich, der sich der Unzulänglichkeiten der Moral und der Unbestimmbarkeit von absolutem Gut und Böse längst verschrieben hat). Es ist auch ein gutes Stück Entfremdung darin, aber einer geistigen Art (also nicht im Marx’schen Sinne): Vielmehr eine Erkenntnis der Nicht-Erkennbarkeit der Welt, und auf diese Erkenntnis folgt nicht der Aufbau neuer Sinn-Kathedralen, sondern ein zerfaserndes, dielektisches Verneinen dessen, was „die Leute“ tun, ohne erkennbares Ziel außer wissenschaftlicher Strenge allem was „ist“ gegenüber.

Es ist definitiv ein philosophischer Roman – aber es fühlt sich ganz anders an, als wenn man Philosophie liest:

[Ulrich] war kein Philosoph. Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren.

Und so bleibt alles fragmentarisch, aphoristisch, essayistisch – doch gleichzeitig vermittelt das Buch, dass dies die einzige Betrachtungsweise der Welt ist, die man zu rechtfertigen in der Lage ist. (Interessant, dass Ulrich gar keine zynischen Züge trägt.)

Vielleicht ist es das für mich bisher bedeutendste Buch, das ich gelesen habe.

Einige der Kapitel, gerade in der ersten Hälfte, kann man fast kontextlos lesen und verstehen. Zu empfehlen sind zum Beispiel:

Tagebücher und Briefe

Aus den Tagebüchern (Suhrkamp-Edition 1963): Beeindruckendes Essay-Fragment „Aus dem stilisierten Jahrhundert (Die Straße)“ über die 2x2=4-Welt der Leute, wie man diese Welt transzendiert und doch wieder erwacht, ohne den Finger darauf legen zu können, wie man „diesen Leuten“ eigentlich voraus ist (und ob man es überhaupt ist: doch das Gefühl bleibt).

Und immer wieder das Strukturelle, z.B. in folgender Selbstbeobachtung:

Am nächsten komme ich der Beschreibung meines Gedächtnisses (und auch meiner Phantasievorstellung) mit folgendem: Ich stelle in jeder Hinsicht unanschaulich vor, etwa in »Sachverhalten«. Ich merke mir auch selten Einzelheiten, sondern immer nur irgendeinen Sinn der Sache. Aus den Sachverhalten, die ganz formlos da sind, fast nicht da sind, bilden sich auf eine Weise, die ich nicht analysiert habe, die Aussagen.

Ich glaube, daß ich deshalb auch so schwer schreibe.

Und:

Ich sehe nicht ein, warum man in Begriffen sich verständigen soll, statt in Vorstellungen. Ich würde mich – vielleicht – lieber – in Vorstellungen verständigen, wenn es ginge. Man soll mir widersprechen.

Eine weitere Selbstbeobachtung:

Ich glaube, ich habe keine Moral. Grund: Mir wird alles zu Bruchstücken eines theoretischen Systems. Die Philosophie habe ich aber aufgegeben, so fällt die Berechtigung weg. Es bleiben nur: Einfälle. –

Das Musil-Lesebuch (Rowohlt 1991) muss man nicht unbedingt gelesen haben; Fragmente der Romane, die man besser ganz liest. Aber ein paar der bekannten kurzen Essays, die in dem Suhrkamp-Buch fehlen.

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

In der Neuausgabe des MoE von Anaconda waren einige OCR-Scan-bedingte Satzfehler; die habe ich an den Verlag geschickt, der sich prompt dafür bedankte, indem ich mir ein Buch meiner Wahl aus dem Sortiment aussuchen konnte: Den Törleß. (Übrigens eine schöne Ausgabe mit Leseband!)

Ich hatte das Buch einmal in der Schule gelesen, ohne mich darum zu kümmern. Tatsächlich ist es ein beeindruckendes Portrait einer Unsicherheit, die vielleicht nicht alle Menschen nur in der Pubertät ereilt: Die Welt zwischen Wissen und Fühlen, dass die Dinge eigentlich viel tiefer sind, als Umstehende ihnen zugestehen wollen. Interessant, wie die imaginären Zahlen, die – zumindest für einen Schüler – so berechtigungslos und doch nützlich in der Mathematik auftauchen, als Aufhänger dienen.

Erzählungen und Theaterstücke

Drei Frauen – „Grigia“ schön kafkaesk; die anderen beiden haben keinen Eindruck auf mich gemacht.

Vereinigungen – „Die Vollendung der Liebe“: Kann man die Genesis eines Gedanken überhaupt so genau beschreiben? Die Zugfahrt, während derer sie den Einfall eines Seitensprunges erhält, ist meisterhaft. – Die zweite Erzählung ist mir zu voll von „tierisch“ und tiefen, wabernden Gedanken, die irgendwann klein und hart und fest werden. Generell etwas, was mich in den frühen Werken stört, weil ich damit nichts anfangen kann.

Die Schwärmer (Theaterstück) – Schwer. Interessant. Schwer bestimmbare Charaktere. Ich würde die Wirkung des Stücks gerne mal auf der Bühne sehen. Zwei Zitate:

Alles hat einen Riß, wenn man klug ist und nicht glaubt?

Und:

Das menschlichste Geheimnis der Musik ist ja nicht, daß sie Musik ist, sondern daß es mit Hilfe eines getrockneten Schafdarms gelingt, uns Gott nahe zu bringen.

posted 2013-12-02 tagged bookdump and musil

Bookdump

Trotz meiner SciFi-Aversion habe ich auf mehrfache Empfehlung Orson Scott Caros (schon ziemlich altes) Buch Ender’s Game gelesen. Spannend! Der Film gefiel mir auch ganz gut – auch wenn man ihn viel besser versteht, wenn man das Buch gelesen hat: vieles wird nicht so klar herausgearbeitet. Hier ist noch ein interessantes Interview mit dem Autor.

Ab und zu finde ich in einer Grabbelkiste mal einen Roman von Ian Rankin, den ich noch nicht kenne: Doors Open ist ein nettes Buch über einen Kunstraub, und es ist nett, Rankin auch mal aus der Perspektive von nicht-Polizisten erzählen zu hören.

An einem Wochenende im September war ich in Kopenhagen, und obwohl ich zwei Bücher dabei hatte, war ich schon am Samstag mit ihnen durch. Wo findet man in Kopenhagen auf einen Sonntag Nachmittag ein englischsprachiges Buch? Der einzige Ort, wo ich tatsächlich Erfolg hatte, war dieses Cafe, das gleichzeitig ein Antiquariat ist. Selbiges hat am Sonntag geschlossen, aber es gibt ein paar Bücherregale, in denen sich Besucher ein Buch ausleihen (und dann auch käuflich erwerben) können. Das noch beste Buch, das ich fand, war ein mittlerweile nicht mehr lieferbares Buch von Richard Cox, The Katanga Run. Es geht um Ex-Fliegerkameraden, die einen alten Groll hegen, sich dann aber Anfang der 60’er Jahre im Kongo auf verschiedenen Seiten eines Konfliktes wiederfinden. Kein gutes Buch, und die Erzählung gipfelt darin, dass der UN-Generalsekretär unter mysteriösen Umständen abstürzt – aber keine Woche später lese ich die Meldung, dass die UN genau diesen 52 Jahre alten Fall neu untersuchen will, und beim Nachlesen über dieses Ereignis kam mir das Buch trotz seines Tom-Clancy-Stils historisch ziemlich akkurat vor. Zufälle gibt’s.

Das 2010 erschienene Buch von Bret Easton Ellis, Imperial Bedrooms, ist typisch und gut. Ich habe mir zu dem Buch notiert: „Beängstigend, wie profaniert und ent-menschlicht Leben werden können.“ – Wo ich schon bei Ellis war, musste ich ja auch mal das deutsche Pendant lesen: Leider aber ist Faserland von Kristian Kracht nicht so wirklich gut. Das Buch ist schon lesenswert, aber ich finde – so merkwürdig das klingt – am besten an diesem Buch noch den Titel. Neue Einsicht: Hanuta steht für „Haselnusstafel“ (das steht sogar auf Wikipedia!). (Nebenbemerkung: Die einzige noch bekanntere Abkürzung in dem Bereich ist denke ich mal „Haribo“, dessen Gründer ja kürzlich verstorben ist.)

Ein wunderschönes Buch ist Der Steppenwolf von Hermann Hesse. Ein kleines Zitat muss an dieser Stelle reichen:

Also, Harry, steh auf, lege dein Buch weg, seife dich ein, kratze dir das Kinn blutig, zieh dich an und habe ein Wohlgefallen an den Menschen!

Das erste Buch, was ich von Nassim Taleb gelesen habe, ist das kürzlich erschienen Antifragile. Teil Lebensphilosophie, Teil Wirtschaftsbuch kommt es ziemlich unwissenschaftlich, aber mit interessanten Einsichten daher. Wenn man nicht genau hinschaut, könnte man Taleb fast neophob nennen, und zumindest predigt er ein gutes Stück Konservativismus. Ich konnte dem Buch einige interessante Einsichten abgewinnen, gerade bezüglich der Vorteile von Optionalität gegenüber Sicherheit. Ein häufiger Kritikpunkt an Taleb ist, dass er zu selektiv und polemisch argumentiert, und eine rigorose Argumentation gelingt ihm nur selten. Aber als Denkanstoß ist das Buch sehr lesenswert, und das Ansinnen, „Antifragilität“ (das eben nicht nur Robustheit ist) als ein neues Wort im modernen Wortschatz zu verankern, ist lobenswert und in meinen Augen auch wichtig.

Ein Klassiker der Weltliteratur, der gut und überraschend einfach zu lesen ist: Vladimir Nabokovs Lolita. Viele Leute mögen das ja als schlecht verpackte Pornographie bezeichnen, aber der Rahmen, in den das Buch eingeschlossen ist und insbesondere die zweite Hälfte der Geschichte sind in meinen Augen viel interessanter und wichtiger als die Pädophilie des ersten Teils (auch wenn die Leichtigkeit des Ausdrucks manchmal sehr unpassend und grausam wirkt). Besonders beim Nachwort des Autors musste ich doch ziemlich lachen, hier mal ein Absatz:

Gewisse Techniken in den ersten Kapiteln vom Lolita (so zum Beispiel Humberts Tagebuch) verführten einige meiner ersten Leser zu der irrigen Annahme, daß der vorliegende Roman ein schlüpfriges Buch wäre. Sie erwarteten eine zunehmende Folge erotischer Szenen; als diese aufhörten, hörten auch die Leser auf und waren gelangweilt und enttäuscht. Das ist, vermute ich, einer der Gründe, warum nicht alle vier [vorher erwähnten] Verlage das Typoskript bis zum Ende gelesen haben. Ob sie es pornographisch fanden oder nicht, interessierte mich nicht. Ihre Weigerung, das Buch anzukaufen, gründete sich nicht darauf, wie ich mein Thema behandelte, sondern auf dieses Thema selbst, denn wenigstens drei Themen gibt es, die für die meisten amerikanischen Verleger absolut tabu sind. Die beiden anderen sind: eine Heirat zwischen Schwarz und Weiß, die zu einer glücklichen Ehe mit einer Unzahl von Kindern und Enkelkindern führt; und der absolute Atheist, der ein glückliches und nutzbringendes Leben führt und mit hundertsechs Jahren sanft entschläft.

Von einem Freund geschenkt, habe ich Arno Orzesseks Erstling Schattauers Tochter gelesen. Puh also naja – das Buch war schon spannend, die Geschichte interessant, und ich will jetzt auch nicht spoilern, nur um einen Kritikpunkt zu machen: Aber alles in Allem wirkte der Roman in etwa so wie man erwarten würde, dass der erste Roman eines studierten Literaturwissenschaftlers aussieht – es ist bekannt, welche Erzählformen gut kommen, welche Themen den Kanon zeitgenössischer (Aufarbeitungs-)Literatur bestimmen, es wird ein wenig mit Formulierungen experimentiert und wie man einen Spannungsbogen zum Schluss bringt weiß der Autor sowieso. Mir war vieles einfach zu vorhersehbar, die Charaktäre zu sehr nach den Notwendigkeiten ihrer Position in der Handlung gezeichnet, insgesamt: zu viel Reißbrett.

Von den beiden CCC-Sprechern Frank Rieger und Constanze Kurz habe ich an einem arbeitsfreien Samstag das neue Buch Arbeitsfrei gelesen: Sehr spannende Einblicke in moderne Produktionssysteme. Ich versuche immer noch eine Primärquelle (oder besser noch ein Video!) für diese Silos zu finden, die bei der Anlieferung jedes einzelne Weizenkorn auf Mutterkornspuren untersuchen, das ist wirklich unglaublich.

Auf Anempfehlung eines Freundes habe ich von Edgar Hilsenrath den Roman Das Märchen vom letzten Gedanken über den Genozid der Armenier während des ersten Weltkrieges gelesen. Ein sehr interessanter Erzählstil; insgesamt gefiel mir das Buch auch gut, aber es war in Teilen doch zu repetitiv und langatmig. Ehrlich gesagt hatte ich vor der Lektüre nicht einmal von diesem Völkermord gewusst.

Das kürzlich erschienene neue Roman von Robert Harris, An Officer and a Spy, ist insgesamt ziemlich lesenswert. Die Dreyfuß-Affäre bestimmt ja auch nicht unwesentlich die Handlung in Prousts Recherche, und ich hatte mir nie wirklich die Zeit genommen, intensiv über die damals herrschende Gesinnung der Franzosen zum Militär und zu den jüdischen Mitbürgern nachzulesen – und gerade dieses Defizit füllt der Roman gut aus. Anfang etwas holprig für meinen Geschmack, und natürlich dafür, dass das ein Jahrelang schwelender Konflikt war, recht kurz.

posted 2013-12-01 tagged bookdump

»La Recherche«

Fast den ganzen Sommer – 88 Tage, um genau zu sein – habe ich für die Lektüre von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gebraucht. Drei Monate also, in denen ich täglich ein bis zwei Stunden in der Belle Époque im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts verbracht habe. Und nun, 4.195 Seiten später, ist das Abenteuer zu Ende. Was für eine Erfahrung!

Natürlich gibt es viel zu sagen zu einem solchen Buch, das regelmäßig als der »Roman der Romane« in den Listen der Bücher auftaucht, die man gelesen haben muss. Und auch ich erinnere mich noch gut, wie ich mit 18 Jahren – retrospektiv betrachtet war ich natürlich noch zu jung dafür – nach den ersten paar Dutzend Seiten (zunächst) ergebnisloser Landschftsbeschreibung das Buch gähnend weggelegt habe und mich Interessanterem gewidmet habe (wie es vermutlich Vielen geht, doch dazu weiter unten mehr) – und doch bin ich dadurch, dass mir in verschiedenen Kontexten immer wieder dieses Werk über den Weg lief Anfang dieses Sommers darauf gekommen, dass ich es doch noch einmal versuchen sollte. Angesichts des schieren Umfangs des Romans muss man sich nun einmal bewusst machen, dass das, was in einer 400-Seiten-Erzählung eine zehnseitige Exposition eines Vorortes samt seiner Bewohner ausmacht, hier entsprechend skaliert gute 100 Seiten ausmacht. Mit diesem Wissen gewappnet aber verliert man die Erwartungshaltung um eine sich nun doch hoffentlich bald herauskristallisierenden Handlung, und dieser Schritt tut dringend Not. Denn erst später – das heißt im zweiten, dritten, vierten Buch, und nicht mal dann in aller Gänze – erschließen sich dem Leser die zentralen Themen des Werkes. Wer aber so lange durchhält, wird reich belohnt.

Ich will aber hier nur einen zentralen Aspekt herausgreifen, und zwar den des Selbstmitleides des Protagonisten angesichts seiner Eifersucht. Schon früh erkennt ja der Leser, dass der Erzähler rückblickend seine damalige Weltsicht zu rekonstruieren versucht, zum Zeitpunkt des Aufschreibens aber schon sehr viel weiter ist mit seinen Gefühlen bezüglich der Liebe und Eifersucht gegenüber seiner Geliebten. Insbesondere ist schon zu dem Zeitpunkt klar, dass all diese den Erzähler so unglaublich leidend machenden Empfindungen späterhin vergessen sein werden. Genau dieser zeitliche Zusammenhang aber hat mich sehr mitgenommen: Es ist, als durchlebe man noch einmal im kleinsten Detail und mit Kenntnis der Zukunft diejenigen Leiden (und Fehler), die einen prägen, und die doch später als Gefühl, nicht jedoch als Erfahrung bedeutungslos geworden sind. Es ist in diesem Teil des Buches, dass der Erzähler eine große Wahrheit über die Welt, die Wesen, die sich in ihr bewegen und im Verhältnis dazu den Standpunkt des Betrachters erfährt:

Wir besitzen von der Welt nur formlose, fragmentarische Vorstellungen, die wir durch willkürliche Ideenassoziationen vervollständigen, aus denen sich gefährliche Suggestionen ergeben.

Wie aber kann man diese fragmentarischen Vorstellungen zu einem großen Ganzen zusammenführen? Am Ende des Buches, während der abschließenden Matinée, geht der Erzähler in einem vorausgreifenden Blick bereits auf die Kritiker seines Romans ein, als er sagt:

Da, wo ich die großen Gesetze suchte, glaubte man in mir jemanden zu sehen, der nach Einzelheiten grub.

Es ist genau dieses ständige Suchen nach Einzelheiten, um damit universelles zu illustrieren, das fasziniert. So sei in den Augen Adornos „Rettendes zu hoffen von der Rezeption eines Dichters, der das Exemplarische vereint mit dem Avancierten“.

Was mich durchaus irritiert hat bei der Nachlese zu diesem Buch war, wie sehr anscheinend meine Leseerfahrung von denen Anderer abweicht. Wird in den Feuilletons Proust angeführt, so zielt der Absatz fast unweigerlich auf die Erinnerung des Erzählers beim Genuss einer Madeleine oder des ihm vorenthaltenen Kusses der Mutter ab – beides Szenen, die zwar unglaublich detailliert im ersten Teil des ersten Buches dargestellt werden (und auf die später noch vielfach zurückgeblickt wird) – so als seien dies die zentralen Momente, die das Werk ausmachen. Mit Blick auf das gesamte Werk kommen mir gerade diese Stellen aber doch vergleichsweise wenig gehaltvoll vor. Die Aspekte des Romans, die ihn in meinen Augen großartig machen, sind vor allem die minutiös, in Zeit vor und zurück springend analysierten sozialen Dramen der Gesellschaft, durchaus nicht frei von Selbstironie; und natürlich der alles durchdringende Komplex von Liebe, Leidenschaft, Betrug und Eifersucht. Ist das nicht das, was den Leser an existentiellen Wahrheiten teilhaben lässt? Warum konzentriert sich also die Rezeption so sehr auf die unwillkührlichen Erinnerungen, die nun einmal punktuell und höchst individuell sind? – Vielleicht muss man den Grund darin suchen, dass einige dieser Autoren nicht weiter vorgedrungen sind als bis zu diesen Episoden; oder aber ich habe das Buch einfach mit einem ganz anderen Fokus gelesen.

Über einige Eindrücke bin ich während der Lektüre im Unklaren geblieben. Am Ende zumindest der ersten vier Bücher (bzw. den jeweils zwei Teilen, die sie ausmachen) hat mich jedes Mal ein Gefühl der Unvermitteltheit getroffen: Wie, aber die Geschichte geht doch gerade erst los?, habe ich jedes Mal gedacht. Ist das gewollt? Oder ist es das Gefühl eines Marathonläufers, der beim Anblick der Ziellinie denkt: Schon? – Des weiteren musste ich bei einigen Passagen herzhaft lachen und zuweilen auch den Kopf schütteln ob der Selbstreferenzialität, Provinzialität und Unfortschrittlichkeit der Personen und Gesellschaften. Es wirkt, als sei das sprichwörtliche Brett vorm Kopf sichtbar gemacht durch die Art und Weise, wie der Erzähler scheinbar teilnahmslos aus den »Skandalen« der lokalen gesellschaftlichen Prominenz berichtet, ganz im Stile Dostojewskis. Aber gerade diese »Unbeschwertheit« im Umgang mit Proust – dass man also über die Gesellschaftskarikaturen und den Autor selbst lachen kann – scheint nicht gerade unumstritten zu sein, meint Proust-Neu-Übersetzer Michael Kleeberg.

Wie viel muss man über Proust wissen, um das Werk gewinnbringend zu lesen? Ich habe im Nachhinein ein wenig in seiner Biographie gestöbert, fand das aber nicht wirklich aufschlussreich. Ja, je mehr man liest, desto mehr meint man, der Roman sei tatsächlich ein autobiografisches Kompendium. Aber ändert das etwas? Ich glaube nicht. – Im übrigen ist ausgerechnet Roland Barthes – von dem der einflussreiche Aufsatz »Der Tod des Autors« stammt – ein großer Proust-Anhänger gewesen, der der Meinung war, nach diesem finalen Monument des Romans habe es keinen Sinn mehr, einen weiteren zu schreiben, und seinen dahingehenden Versuch in Vorlesungsnotizen umgearbeitet hat.

Der Schriftsteller gebraucht nur ganz unaufrichtig in der Sprache der Vorreden und der Widmungen gewohnheitsmäßig die Wendung: ›Mein lieber Leser.‹ In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können. Daß der Leser das, was das Buch aussagt, in sich selbst erkennt, ist der Beweis für die Wahrheit eben dieses Buches, und umgekehrt gilt das gleiche, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, da die Differenz zwischen den beiden Texten sehr oft nicht dem Autor, sondern dem Leser zur Last gelegt werden muss.

Wer die Zeit und Ausdauer hat, dem sei die Lektüre empfohlen.

posted 2013-08-27 tagged proust and bookdump

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Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens – Ganz nett für zwischendurch in der Bahn zum Lesen. Aber die referenzierten Werke (Kahnemann, Cialdini) sind natürlich wesentlich aufschlussreicher. – Melville: Moby Dick – Ein Klassiker, auch heute noch ist die Figur Ahabs Prototyp der Idee des verrückten und unnachgiebigen Anführers. Ich habe als Kind vermutlich eine vereinfachte Version gelesen, denn die Geschichte zieht sich ewig lang hin und ist in absolut ermüdendem, slang-durchsetzten Englisch geschrieben. Erstaunt hat mich, wie wissenschaftlich der Roman anmutet, und über Seiten die Genealogien gewisser Wahlgattungen ausgebreitet wird. (Das Buch erschien, als Darwin seine Evolutionstheorie noch nicht veröffentlicht hatte.)

William Gibson: Pattern Recognition – Mein zweiter Versuch Gibson zu lesen. Ganz interessant, aber für mich zu konfus. – Hunter S. Thompson: The Rum Diary – Das erste Mal, dass ich Thompson gelesen habe. Ganz lustiges Buch, und die Verzweiflung des Protagonisten kommt viel besser rüber als im gleichnamigen, kürzlich erschienen Film. – Charles Bukowskis erster und letzter Roman: Post Office und Pulp sind wie immer bei Bukowski, gute Unterhaltung. – Richard Price: Clockers ist irgendwie ziemlich länglich, aber ich habe es doch zu Ende gelesen. Gefühlt hat das Englisch in dem Buch auch ein bisschen auf meine Sprache abgefärbt. Der Film zum Buch ist nicht zu empfehlen.

Nachdem ich Aldous Huxleys Klassiker Brave New World wieder gelesen hatte und beeindruckt war, habe ich anschließend seine Utopie Island gelesen, und dann auch seine Abhandlung über die Ursprünge und Ausprägungen von Ewigkeitsphilosophie, The Perennial Philosophy, gelesen. Die Utopie hat mir ganz gut gefallen (ist nur etwas kitschig), aber mit seiner Faszination mit fernöstlicher Einheits- und Ewigkeits-Philosophie konnte ich überhaupt nichts anfangen.

Seit ich das kleine Büchlein Poststructuralism: A very short introduction gelesen habe, habe ich etwas für Kunst übrig. Siehe zum Beispiel die Kontroverse um Fountain.

Zwei Bücher habe ich gelesen, die mir wirklich gut gefallen haben. Zunächst Roberto Bolaños früher Roman The Savage Detectives. Ein Paradebeispiel für die nichtlineare/zirkuläre Erzählstruktur spanischer Literatur, ist das Buch lustig, spannend und voller Charaktere, an die man sich noch lange erinnern wird. Allein der Name der avant-gardistischen jungen Dichtertruppe, um die sich die Geschichte dreht: Visceral Realists, also sich auf tiefe, inwärts gerichtete und nicht dem Intellekt zugängliche Gefühle beziehende Realisten – ist eine geniale Wortkonstruktion. – Auf Empfehlung eines Bekannten habe ich Theodore Rozsaks Roman Flicker gelesen. Wenn man Umberto Eco mag, dann liegt man hier sicher nicht falsch. Eine grandiose Geschichte zwischen Wahn und Realität, die ich sicherlich nicht komplett auskosten konnte, weil mir viele der historischen Filmreferenzen fehlten. Lediglich das Ende ist ein bisschen mau.

Zwei Sachbücher habe ich gelesen, die allerdings so voller Fakten waren, dass es irgendwann ermüdend wurde und ich mir jeweils die letzten 200 Seiten gespart habe. Anders als auf dem Buchrücken von Made in Americe kann man Bill Bryson auch nicht beschreiben: „witty, learned, compulsive.“ – Das Kompendium The German Genius von Peter Watson ist ziemlich beeindruckend. Der Brite wählt einen Ansatz, den ich sehr wichtig finde: Zu zeigen, dass Deutsche Geschichte viel mehr ist als die Zeit ab der Machtergreifung Hitlers; insofern kümmert er sich statt dessen um die Aspekte der Kunst, Philosophie, Forschung, Sprache, Militärtechnik und sozialer Organisation der letzten 250 Jahre, die deutschen Ursprungs sind und bis heute bleibende Spuren in Europa und der Welt hinterlassen haben.

Ein Büchlein voller interessanter Fragen ist Ludwig Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Zum Beispiel solche wie diese hier:

226 – Nimm an, Einer folt der Reihe 1, 3, 5, 7, … indem er die Reihe der 2x+1 hinschreibt. Und er fragt sich: »aber tue ich auch immer das Gleiche, oder jedesmal etwas anderes?« Wer von einem Tag auf den andern verspricht »Morgen will ich dich besuchen« – sagt der jeden Tag das Gleiche; oder jeden Tag etwas anderes?

Das Buch durchzieht eine ständige Dialektik zwischen innerer Wahrnehmung und äußeren Umständen: Befolgt man eine Regel (zum Beispiel die der Arithmetik), wenn man glaubt, man befolge sie? Ist dies von außen überprüfbar? Ist überhaupt über den Begriff des Verstehens verhandelbar, d.h. kann man jemandem zugestehen, etwas verstanden zu haben, nur anhand stichprobenartiger Äußerungen, die konform mit der zu überprüfenden Regel gehen? – Es sind unter anderem solche Fragen, mit denen Wittgenstein sich auf beeindruckend spielerische Weise und mit vielen prägnanten Beispielen nähert. Und doch bleibt bei mir der Eindruck, nicht wirklich etwas „mitgenommen“ zu haben aus diesem Buch. Ist es, weil ich seit nunmehr vier Jahren in einer Welt der Mathematik lebe, in der es fast nur um Systeme ziemlich abstrakter Art geht, von der man notwendigerweise immer nur ein fragmentarisches Verständnis hat? In jedem Falle erscheinen mir viele dieser Fragen nicht wirklich in die Tiefe zu gehen. –

Und dann habe ich Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust gelesen. Dem widme ich aber einen eigenen Post.

posted 2013-08-27 tagged bookdump

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In den aktuellen Bestsellerlisten findet sich momentan fast überall Jonas Jonassons Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand. Mit gutem Grund: Das Buch lässt sich locker-leicht lesen und eignet sich bestens als Ferienlektüre. Ähnlich leicht und anekdotisch kommen Charles Bukowskys Notes of a dirty old man daher: Immer gut für einen Lacher. Den Klassiker Catch-22 von Joseph Heller habe ich 150 Seiten angelesen, konnte aber irgendwie nichts damit anfangen. Die neuerliche Lektüre von Aldous Huxleys Brave New World war unterhaltsam. (Siehe auch diesen treffenden Webcomic, der die Dystopien von Orwell und Huxley vergleicht.)

Graeber: Debt In meinen Augen extrem wichtig ist David Graebers Buch Debt / The First 5000 Years. Allseits hochgelobt, hat mir das Buch eine Art der historischen Analyse gezeigt, die ich bisher nicht kannte. Spannend, unterhaltsam aber unglaublich gehaltvoll und detailreich zugleich – das Buch muss man gelesen haben, alleine schon des Einstiegskapitels wegen, The Myth of Barter (dt.: Der Mythos des Tauschhandels). Intellektuell schockiert war ich von der anscheinend gut belegten Tatsache, die sich zusammenfassen lässt als:

His [Llewellyn-Jones] study covers the entirety of the ancient Greek world and argues that veiling was routine for women of varying social strata, especially when they appeared in public or before unrelated males.

In den Worten Graebers (Debt, p. 188):

As much as it flies in the face of our stereotypes about the origins of “Western” freedoms, women in democratic Athens, unlike those in Persia or Syria, were expected to wear veils when they ventured in public.

Das habe ich im Latein- und Geschichtsunterricht nie gehört. Im Gegenteil, die Frauen wurden in den Büchern immer als fortschrittlich, demokratisch und relativ emanzipiert dargestellt. – Definitiv ein Buch, dass ich in näherer Zukunft nochmal lesen werde.

Für das Verständnis moderner Konflikte ist auch A game as old as Empire sehr hilfreich. Als „Nachfolger“ von Economic Hitmen präsentiert Hiatt Menschen, die in ganz unterschiedlichen Kontexten und mit ganz unterschiedlichen Motivationen in Branchen arbeiten, die im Endeffekt darauf abzielen, die Wirtschaft von Ländern anzugreifen: Seien es Offshore-Banker, für amerikanische Ölfirmen in Nigeria arbeitende Söldner oder Berater und Analysten der Weltbank oder des IMF.

Ich habe auch wieder ein bisschen mehr SciFi gelesen: Angefangen mit dem Klassiker Snow Crash von Neal Stephenson, den ich allerdings nur mäßig beeindruckend fand. Viel mehr gefallen hat mir da Fear Index von Robert Harris, das sich mit autonomen Börsenhandelssystemen befasst, die plötzlich ein hazardöses Verhalten an den Tag legen; außerdem habe ich das erste Mal etwas von Cory Doctorow gelesen: For the Win, ein in China, Indien (Dharavi), Singapur und den USA spielendes Buch, das wunderbar zu Graebers Buch passt, denn dort geht es um virtuelle Spielgüter, die aber in der realen Welt Wert besitzen (als ob das verwundern würde) – und plötzlich organisieren sich die Goldfarmer und bilden eine Art internationaler Gewerkschaft. Unterhaltsam und lehrreich. Das Highlight zum Schluss: Der neue Suarez, Kill Decision, ist wirklich super. (Mehr Hintergrundinfos.)

Anfangs begeistert war ich von Haruki Murakamis Buch 1Q84. Alleine die Ausgabe, die anscheinend noch nicht überall verfügbar ist, ist absolut gelungen: Die Seitenzahlen sind immer auf unterschiedlicher Höhe und in der Hälfte der Fälle gespiegelt; und interessanterweise ist der Satzspiegel der jeweils rechten Seite genau um eine Zeile nach unten verschoben. (Warum, konnte ich nicht herausfinden, aber ich gehe davon aus, dass es Absicht ist.) Den ersten Teil habe ich mit Begeisterung gelesen. Nach ca. 500 Seiten wurde es dann erst langweilig, und auf Seite 900 habe ich beschlossen, die restlichen 200 Seiten nicht mehr zu lesen, so langweilig, schwerfällig und belanglos sind die Erläuterungen. Der Klappentext verspricht “A love story, a mystery, a fantasy, a novel of self-discovery, a dystopia to rival George Orwell’s” – Aber insgesamt ist die Dystopie, die ich gerne gesehen hätte fast nicht vorhanden, und zu viel Handlung verliert sich in mystischen Erklärungsansätzen. Schade, denn aus der Geschichte hätte man wirklich etwas machen können.

Gerade eben bin ich mit dem neuen Buch von Irvin D. Yalom fertig geworden: Das Spinoza-Problem bedient sich des Erfolgsrezeptes „historische Persönlichkeit psychoanalytisch in Romanform dargestellt“, ist aber in meinen Augen nicht so gelungen wie die beiden Vorgänger über Nietzsche und Schopenhauer. Sowohl Spinoza als auch Rosenberg sind interessante Charaktere und werden gut dargestellt. Insgesamt aber wirken die Dialoge zu durchkonstruiert, zu wenig echt. Vielleicht hätte es ein Briefwechselroman werden sollen.

posted 2012-10-06 tagged bookdump

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Im Sudan hatte ich viel Zeit und Muße, und habe den absoluten Klassiker, die Illuminatus Trilogy von Rober Shea & Robert Anton Wilson gelesen – zum mittlerweile dritten Mal. Ich lese eigentlich Romane generell nur einmal, aber dieses Buch ist anders als jedes andere Fiktionswerk, dass ich sonst kenne: Wild springend in Raum, Zeit, Person und Erzählstil lässt es einen im einen Moment laut auflachen, im nächsten aber in angestrengtes Nachdenken verfallen. Ich zähle es nach wie vor zu meinen absoluten Lieblingsbüchern. – In Cairo gab es nur wenig englische Literatur zu kaufen, daher musste ein Klassiker her: Charles Dickens' Oliver Twist ist eine ganz nette Geschichte, die ich aber nach zwei Dritteln dann auch gar nicht so zwingend zu Ende lesen musste und es daher gelassen habe.

Der neue 1000-Seiten-Wälzer von Neal Stephenson, REAMDE, ist, obwohl er spannend ist, leider mit 300 Seiten zu lang geraten. Die anfängliche Geschichte – das MMORPG T'Rain, das die Chinesen anzieht, könnte tatsächlich in ein paar Jahren Wirklichkeit werden – ist sehr gut gelungen, besonders die Charaktäre Dodge und Sokolov. Aber in etwa ab dem Abflug aus Manila und dem Moment, in dem Olivia Sokolov "rettet", ufert die Geschichte leider aus. Zu viele Unwahrscheinlichkeiten, zuviel doppelt erzählte Szenen aus verschiedenen Blickwinkeln – der Showdown hätte gut in einer Stadt stattfinden können und nur 70 Seiten brauchen müssen. – Und: Ohne zu wissen, warum, fühlt sich das dauernde Wikipedia/Twitter/Facebook-Namedropping nach dem dritten Mal ziemlich gezwungen an und trägt nichts zur Geschichte bei. Die Interaktion mit Computern und das "Hacking" wird allerdings meist ziemlich realitätsnah dargestellt, was man bei Stephenson aber auch erwarten darf.

Einen weiteren Klassiker von Bret Easton Ellis habe ich mit American Psycho gelesen. Der Film ist natürlich sehr bekannt, aber das Buch gibt auch eine gute Vorlage ab: Eine kranke Welt, in der es normalerweise nur um Reservierungen in Edelrestaurants geht, ab und zu aber auch um Alkohol, Visitenkarten oder eben den Mord an einem Obdachlosen oder einer Hure.

En passant habe ich dann noch Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich von David Foster Wallace gelesen, was gar nicht so schrecklich amüsant war, aber doch nett. Wenn man gerne Menschen beobachtet und über ihre Intentionen und Hintergründe philosophiert, dann findet man hier einen Gleichgesinnten.

Insgesamt drei der kürzeren Bücher von Noam Chomsky habe ich gelesen. Die Piper-Ausgabe Profit over People / War against People scheint ein Klasiker unter den deutschen Chomsky-Übersetzungen dazustellen. Die beiden 1999 geschriebenen, eher kurzen und überraschend bissigen Bücher behandeln im Wesentlichen den Neoliberalismus, der "der erste und unmittelbare Feind wirklicher Demokratie ist ... [woran] sich auf absehbare Zeit auch nichts ändern [wird]" (aus der Einleitung von McChesney). – Die großen Themen sind bekannt, besonders im Vordergrund stehen Nicaragua und Kuba. Das Gesamtbild sowie die beschriebenen Fälle finden sich großteils schon in Year 501: The Conquest Continues; doch hat Chomsky in diesen beiden Büchern einige wirklich schlagkräftige und unintentionell realitätsnahe Zitate zu seinem Steckenpferd erkoren und wird nicht müde, sie ständig zu wiederholen. Und auch noch ein Jahrzehnt später, besonders in Bezug auf die Finanzkrise, ist das Schlusswort absolut richtig:

Die sozioökonomische Ordnung, die jetzt von oben verfügt wird, ist das Ergebnis der Entscheidung von Menschen, die in von Menschen gesschaffenen Institutionen wirken. Die Entscheidungen können widerrufen, die Institutionen verändert werden. Sollte es sich als notwendig erweisen, können sie zerschlagen und ersetzt werden. Das haben aufrechte und mutige Menschen im Laufe der Geschichte immer wieder vollbracht. [S. 150, WaP]

Von wegen als: TINA (there is no alternative) – oder, wie man zu Neudeutsch sagt: alternativlos.

Making the Future ist eine Ende Februar 2012 erschiene Sammlung von in der New York Times erschienenen Artikeln aus dem Zeitraum April 2007–Oktober 2011. Das Buch eignet sich sicherlich gut als Einstieg in Chomskys Werk, denn die Artikel sind überschaubar, in sich abgeschlossen und gut verständlich. Für mich persönlich war es noch einmal interessant, markante Ereignisse und Entscheidungen dieser Zeit (z.B. die Ernennung Obamas zum Präsidenten, sein Friedensnobelpreis; die Gaza-Flottilla; WikiLeaks' CableGate; Somalische Piraten; die Finanzkrise; den Arab Spring) zu rekapitulieren und auch zu sehen, wie Tatsachen, die ich soweit ich mich erinnere erst später erfahren habe, schon zu den jeweiligen Zeitpunkten absehbar waren. – Teilweise wiederholen sich ganze Absätze oder Formulierungsbausteine. Der folgende Absatz aus Chomskys am Ende des Buches abgedruckten Occupy Boston-Rede vom Ende Oktober 2011 lässt den Titel des Buches gerechtfertigt erscheinen.

Karl Marx famously said that the task is not just to understand the world but to change it. A variant to keep in mind is that if you want to change the world you'd better try to understand it. That doesn't mean just listening to a talk or reading a book, though that's helpful sometimes. You learn from participating. You learn from others. You learn from all the people you're trying to organize. We all have to gain the understanding and the experience to formulate and implement ideas and plans as to how to move forward.

Jetzt lese ich wieder ein bisschen an meiner Dostojewski-Gesamtausgabe, momentan: Der Idiot.

posted 2012-05-30 tagged bookdump

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Cover of Kahneman's »Thinking, fast and slow« Ein Buch, das man sich wirklich nicht entgehen lassen sollte, ist Thinking, fast and slow von Nobelpreisträger Daniel Kahneman. Es ist sicherlich kein sehr mitreißendes Buch, aber auch nicht allzu trocken oder komplex. Thema des Buches sind die zwei Akteure System I und System II – die Intuition, die zwar schnell, dafür aber ungenau arbeitet und leicht zu täuschen ist, und das, was wir "angestrengtes Nachdenken" nennen.

Im Wesentlichen geht es darum, was für Mechnismen gewissen für uns typischen Denkmustern zugrund liegen, wie wir sie analysieren können, und was für Fehlinformationen sie uns glaubhaft machen können. Als wissenschaftliche Grundlage dienen dafür Gedankenexperimente, die großteils auch an Gruppen von Probanden getestet werden. (Jeweils gegen monetäre Entschädigung, häufig ist die Höhe der Entschädigung auch Grundlage des Experiments; wer finanziert sowas eigentlich? Und warum mache ich nie bei solchen Studien mit, wo man durch Beantworten einiger weniger Fragen ein paar Dutzend Euro erhalten kann? –)

Kahneman erklärt anhand einiger simpler kognitiver Illusionen, denen wir tagtäglich erliegen und die uns als scheinbar rationale Wesen objektiv völlig irrationale Handlungen unternehmen lassen, wie wir diese Illusionen a) erkennen können und teilweise auch b) dagegen vorgehen können.

Das Buch hat übrigens einen guten Index, so dass ich auch die äußerst passende Zusammenfassung aus dem Nachwort wiederfinden konnte:

The way to block errors that originate in System 1 [intuition] is simple in principle: recognize the signs that you are in a cognitive minefield, slow down, and ask for reinforcement from System 2 [careful thinking, as in: doing the math, considering statistics]. This is how you will proceed when you next encounder the Müller-Lyer illusion. When you see lines with fins pointing in different directions, you will recognize the situation as one in which you should not trust your impression of length. Unfortunately, this sensible procedure is least likely to be applied when it is needed most. We would all like to have a warning bell that rings loudly whenever we are about to make a serious error, but no such bell is available, and cognitive illusions are generally more difficult to recognize than perceptual illusions. (p. 417)

Im Nachwort räumt Kahneman übrigens mal eben so mit der Chicago School auf, die ja wesentlich auf der Illusion eines "rationalen Menschen" aufbaut: The economists of the Chicago school do not face that problem [whether to protect people from themselves], because rational agents do not make mistakes. For adherents of this school, freedom is free of charge. (p. 412) – –

Etwas leichtere Kost war Philip Roths Nemesis. Im Sommer 1944 geht es ums Überleben: Für die einen, weil sie in den Krieg ziehen müssen, für die anderen, weil sie zu jung sind, und sich zu Hause mit einer Polioepidemie konfrontiert sehen. Auch wenn der Protagonist diesmal nicht krebskrank in der Midlife-Crisis steckt, gelingt es Roth doch leider nicht, mal einen Roman zu schreiben, in dem es nicht um Tod, Verfall und Bedauern über das eigene Leben geht. Nichts also, womit ich mich identifizieren kann. – Viel eher kam ich dagegen mit Charles Bukowskis autobiographischem Character Chinaski in Das Liebesleben der Hyäne zurecht: Ein herrliches Buch, das ich an einem Abend gelesen habe. Hoffentlich bin ich mit 50 auch noch so gut drauf!

Mal wieder zwei nicht zu Ende gelesene Bücher, die mich nicht vom Hocker gehauen haben: Thomas Pakenham: Der kauernde Löwe, eine monumentale, aber doch etwas schwerfällige Biographie der Eroberung und Kolonialisierung der Mitte des afrikanischen Kontinents (also im Wesentlichen auch die Suche nach der Quelle des Nil) – Anne Michaels: Wintergewölbe, ein Roman über den Ab- und Wiederaufbau des Abu-Simbel-Tempels. Die Abschnitte über die forcierte Umsiedlung der Nubier (und das Pendant in Kanada) ist spannend und ergreifend, aber alles pseudo-bedeutungsschwere dazwischen langweilt nach den ersten drei Seiten, leider.

posted 2012-02-22 tagged bookdump

"Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muss."

Ich habe unter der Woche Bernd Ulrichs Streitschrift Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muss. vom Oktober 2011 gelesen. Das Buch war für mich unter mehreren Aspekten interessant. Einerseits beleuchtet es die Hintergründe der Kriege, die ich damals als Kind noch nicht mitbekommen habe – den Namen UÇK kannte ich zwar aus den Nachrichten, wusste aber damit nichts zu verbinden – und bietet so eine gute Perspektive auf die jüngere Deutsche Geschichte, gerade auch in Hinblick auf die Auswirkungen der Wiedervereinigung auf die geopolitische Sicherheitslage Europas und der Welt, sowie das politische Selbstbewusstsein Deutschlands. Andererseits meldet sich hier aus der Generation meiner Eltern ein Kriegsdienstverweigerer und ehemaliger Mitarbeiter des Fraktionsvorstandes der Grünen im Deutschen Bundestag zu Wort, der mittlerweile stellvertretender Chefredaktuer und Leiter des Politik-Ressorts der Zeit ist.

Das ganze ist flüssig zu lesen, aber natürlich kontrovers – und das soll es ja auch sein. Zunächst muss gesagt werden, dass das Buch eine Reihe interessanter Einsichten enthält, die auch sehr treffend ausformuliert sind. Über die Tatsache, dass sich in der deutschen Bevölkerung nur sehr schwierig eine stabile Mehrheit für einen Einsatz der Bundeswehr finden lässt, bemerkt er ganz richtig (S. 53):

Hinzu kommt ein ganz profaner Umstand. In Deutschland finden unablässig irgendwelche Wahlen statt, weshalb eine kriegführende Bundesregierung einem andauernden Plebiszit ausgesetzt ist, das sie nur überstehen kann, solange andere als die militärischen Fragen wahlentscheidend sind.

Und weiter:

Die Regierung wird infolgedessen dazu tendieren, die Fragen von Krieg und Frieden möglichst nicht zu thematisieren, ja, ihre Thematisierung aktiv zu verhindern.

Eine weitere interessante Beobachtung stellt Ulrich über die "spezielle Verbindung" zwischen Deutschland und Israel an (S. 73):

In der wachsenden Distanz zu Israel und in die zunehmende Skepsis gegen Militäreinsätze hinein bringt nun die Merkel-Doktrin Deutschland näher an einen Militäreinsatz für Israel. Hier liegt eine enorme latente Spannung.

Schaut man auf das Inhaltsverzeichnis, so kann man das Buch in einige wesentliche Thesen zusammenfassen:

  1. Aufweichung der Bündnistreue: Emanzipation von der Bündnispflicht, hin zu Von-Fall-zu-Fall-Entscheidungen.
  2. Die Kriege im Irak und in Afghanistan waren falsch; die auf dem Balkan und in Libyen richtig.
  3. Künftige Militäreinsätze im Ausland sollten "Polizeicharakter" haben, Völkerrecht ist teilweise überholt.

Meine Generation, also die zur Zeit des Niedergangs der DDR oder nach dem Mauerfall Geborenen, sind in meinen Augen sehr pazifistisch eingestellt, und das ist gut so. Rundheraus würde ich sagen: Krieg ist immer falsch.

Leider stimmt das nicht. Ja, wenn man an all die Kriege denkt, die Amerika so geführt hat im Südosten Asiens, oder wie die Kriege in Afghanistan und dem Irak laufen: das ist abgrundtief falsch. – Andererseits muss man sich immer wieder den Ruandischen Genozid vor Augen halten, und die damalige Passivität der UN. Dadurch, dass westliche Mächte nicht eingegriffen haben, obwohl sie ziemlich gut wussten, dass ein riesiger Völkermord passierte, das ist unverantwortlich. – Wenn man sagt "Krieg ist in keinem Fall tragbar", dann öffnet man dem Kulturrelativismus Tür und Tor. Profan ausgedrückt, sagt man: "Lass die Anderen doch mit sich selbst klarkommen. Wenn sie sich abschlachten, dann ist das nicht mein Problem, und nicht einmal notwendigerweise falsch." – eine solche Einstellung ist sehr, sehr gefährlich. Von daher ist für den Pazifisten die Fragestellung, ob es überhaupt legitime Kriege gibt, eine sehr viel schwierigere, als sie auf den ersten Blick scheint.

Im Nachhinein kann man möglicherweise sagen, dass der Einsatz der Bundeswehr als Teil des NATO-Bündnisses in Libyen gerechtfertigt gewesen wäre. Der Einsatz ist mittlerweile beendet, und der Aufbau des Landes kann beginnen. Wenn ein Präsident die Luftwaffe gegen das eigene Volk einsetzt, dann sollte es schwer sein, wegzuschauen. – Natürlich muss man sich überlegen, wer denn die Machtposition Gaddafis über Jahrzehnte gefestigt hat. Aber man kann und darf die Frage nach militärischer Intervention nicht mit einer antiimperialistischen Floskel à la "hätten wir nicht X gemacht ... wäre nicht Y passiert" abtun. Dort sterben Leute.

Ich tue mich auch schwer in der Frage, zumal ich von einer anderen Prämisse ausgehe, was die Situation zugegebenermaßen leichter macht: Ich empfinde nichts für das Staatenkonstrukt Deutschland. Deutsche Kultur, insbesondere die deutsche Sprache und Literatur, sowie klassische Musik bedeutet mir etwas – das geht aber über Staatengrenzen hinaus. Der Großteil von Deutschland – das heißt, alles außerhalb von Hamburg und Berlin – bedeutet mir nichts, ganz einfach nichts. Ich habe da schließlich nie gelebt. Aber ohne die Grundlage von konstruierten Staaten, die gemeinsam agieren, entfällt natürlich die Notwendigkeit zur Verantwortung gegenüber anderen Staaten – es bleibt die Verantwortung von Menschen gegenüber anderen Menschen, und dort sind die Menschenrechte ein ziemlich allgemein akzeptierter Konsens.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Buch einige spannende Einsichten, auch in das Wirken von Presse und Politik, bereit hält. Und es ist beeindruckend zu sehen, wie ein ehemaliger überzeugter pazifistischer Aktivist heute Kriege zu legitimieren versucht.

posted 2012-01-08 tagged politik and bookdump

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Ich habe erstaunlich wenig gelesen die letzten paar Monate. Außerdem habe ich zwei Bücher nicht zu Ende gelesen, was sonst gar nicht meine Art ist.

Die unfertigen Bücher: David Foster Wallace: The Pale King, war mir viel zu unklar und querbeet. Man muss sich vorstellen, dass jemand das Thema "Boredom" am Beispiel einer merkwürdigen Ansammlung von Steuereintreibern im Illinois der '70er Jahre veranschaulichen will. Und das Buch ist, nicht zuletzt aufgrund seiner Sprache, unglaublich schwer lesbar. Typisch DFW, nur nicht mitreißend. (Konstant lustig ist nur die Situationen, in die "David Wallace" aufgrund der Namensverwechslung gerät.) – Dann habe ich mir auf einer Zugfahrt große Teile von Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita gegönnt. Aber über der Hälfte, und als sie Besen reitend noch immer Unsinn reden, habe ich das Buch wieder weg gelegt. Ich habe von dem Autor mehr erwartet, nachdem mir mehrere Leute von ihm vorgeschwärmt hatten.

Einen weiteren Roman habe ich von Bret Easton Ellis gelesen: Less than Zero. Der war wesentlich besser als "The Rules of Attraction": Einfach mehr, und bessere Dekadenz. – Auch von Irvin D. Yalom habe ich ein zweites Buch gelesen, nachdem mir "Und Nietzsche weinte" sehr, sehr gut gefallen hatte. (Der Film ist keinesfalls zu empfehlen.) Die Schopenhauer-Kur ist nicht historisch, dafür mit allerlei historischen Notizen gespickt. Ein schöner Roman.

Peter Seibel: Coders at Work ist ein schönes Buch: In 20 Interviews stellen sich Programmiergrößen wie Jamie Zawinsky und auch Donald Knuth einem ganzen Katalog von Fragen: Debuggen via Single-Stepping, oder doch lieber Quick'n'dirty-Print-Statements? Editor oder IDE? Was war der härteste Bug, den sie je behoben haben? – Alles in allem der wunderbare Beweis dafür, dass diese Leute auch nur Menschen sind, außerdem gibt es Gelegenheit, über das eigene Codeschreiben zu reflektieren, und eventuell gewisse Fallstricke bei der Projektplanung bei Anderen wie bei sich selbst aufzudecken.

(Ich habe dieses Buch als Anlass genommen, mir The Art of Computer Programming, Band 1, zu kaufen. Ob sie dieses Buch gelesen haben wurden nämlich auch fast alle gefragt. Durch den "harten, mathematischen Teil" bin ich schon gut durchgekommen, aber mit dem MIX-Teil habe ich erst ein bisschen begonnen.)

David Foster Wallace: Everything and More ist grandios. Es ist der erste Nicht-Roman, den ich von DFW gelesen habe. Im wesentlichen geht es um die Eigenschaften der reellen Zahlen, die einen Mathematikstudenten im ersten Semester in Analysis I tage-, wenn nicht sogar wochenlang beschäftigen: Wie kann es sein, dass es unendlich viele rationale Zahlen sind, sie aber 0% der reellen Zahlen ausmachen? Wie kann es verschiedene "Größen" von Unendlichkeit geben? – Das ganze bettet DFW liebevoll in einen historischen Kontext und mathematisch nicht ganz präzise, aber doch wunderbar verständliche, selbst erfundene Notation ein. Schon der Untertitel deutet einiges an Sprachwitz an: A Compact History of Infinity. Für Mathematikinteressierte definitiv zu empfehlen!

posted 2012-01-05 tagged bookdump

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... was ich so im August gelesen habe, neben den beiden Suarez-Romanen.

Robert Cialdini: Influence, The Psychology of Persuasion, empfohlen bei Alternativlos 8, ein Klassiker für Vermarkter. Viele interessante Prinzpien, die u.a. Werbestrategien zugrunde liegen werden anhand guter Beispiele erklärt. – Janne Teller: Nichts, dessen deutsche Übersetzung erst jetzt, zehn Jahre nach der dänischen Erstveröffentlichung, erschienen ist. Zwar als Jugendroman gedacht, ist es auch für Ältere nett, auf einfache, praktische Weise über den im Buch dargestellten Nihilismus und dessen Gegner und Gegenargumente zu reflektieren. Zeitweise war das Buch an dänischen Schulen verbotenD. Johnson: Afrika vor dem großen Sprung, Auf knapp über 100 Seiten gibt der Autor des Kongo-Echos seine Einschätzung zur Zukunft Afrikas zum besten. Während ich manche seiner Voraussagen doch sehr optimistisch finde, ergibt sich nach dem Lesen insgesamt ein guter Überblick über aktuelle Probleme, aber vor allem auch Chancen Afrikas. – Bret Easton Ellis: The Rules of Attraction, lustig, wahr, um Längen besser als der gleichnamige Film zum Buch.

Dave Eggers: Weit gegangen, ist ein Buch über den Sudanesen Achak Deng, der seit seiner frühesten Kindheit zunächst innerhalb des heutigen Südsudan, später in Äthiopien und im Norden Kenias auf der Flucht war bzw. später in Flüchtlingslagern lebte. Knapp 800 Seiten stark ist die Geschichte, die erzählt wird; und doch kann man das Buch locker in zwei Tagen lesen, weil es so leicht und spannend zugleich geschrieben ist. Leseempfehlung!

Ayn Rand: Atlas Shrugged, habe ich heute morgen fertig gelesen. Meine Ausgabe ist knapp 1100 Seiten lang, allerdings bei 8-Punkt-Schrift, ohne nennenswerten Rand, schlecht gedruckt und gebunden. Aber immerhin, sechs Euro... – Ich war auf das Buch aufmerksam geworden durch den ersten Teil der Dokumentationsserie All Watched Over by Machines of Loving Grace, der im Wesentlichen Ayn Rand und die Implikationen ihrer Philosophie beleuchtet. Ohne viel nachzudenken habe ich mir das Buch bei Amazon geklickt, weil ich dachte, dass es bei dem Preis sicherlich nur eine kleine Broschüre wäre... Falsch gedacht. – Das Buch ist im wahrsten Sinne atemberaubend. Kein Kapitel ist unnötig, es fällt leicht, das Buch in einem Rutsch zu lesen. Die Rezeption des Buches spricht für sich. Manche Leute würden den Inhalt als "die absoulte Wahrheit" bezeichnen, Andere nur als "Kapitalismus-Geschwafel". Egal was man darüber denkt, das Buch polarisiert und regt zum Nachdenken an. – Das Buch stellt den Kampf zwischen einem unfair und uneffizient implementierten Sozialismus vs. Laissez-faire-Kapitalismus dar, oder einfacher gesagt, den Kampf zwischen Ich brauche vs. Ich kann. Rand ist eine Verfechterin rationaler Entscheidungen: dadurch werden die Gegenüberstellungen verschiedener Gedankenschulen im Buch leider immer schwarz-weiß dargestellt. Doch gibt es viele Elemente, die äußerst lehrreich sind: Das ständige I couldn't help it und Who am I to blame? gibt es genau so heute. Marode öffentliche Infrastruktur haben wir heutzutage noch viel mehr als früher (unter dem Deckmantel der Privatisierung, was aber in Rands Augen genau dem Reiten, bis der Gaul tot ist entspricht). Die voluntary compliance als maskierter Zwang. – An einigen Stellen scheinen meiner Meinung nach deutlich Nietzschesche Tendenzen durch: sowohl die Ideen, als auch die Form (vgl. John Galts Radioansprache und Zarathustras Reden). NB: Viele Rand-Anhänger behaupten, dass Rand schon zu Zeiten von The Fountainhead komplett mit der Philosophie Neitzsches gebrochen hatte. – Was auch immer dieses Buch nun für den Einzelnen bedeutet: Es ist unbedingt lesenswert, nicht nur ob der Tatsache, dass es auch wesentlich diejenigen beeinflusst hat, die uns beeinflussen (siehe auch).

posted 2011-09-04 tagged bookdump

Suarez: Daemon und Freedom

Ich habe den besseren Teil des Wochenendes damit verbracht, Daniel Suarez' Daemon und dessen Nachfolger Freedom™ zu lesen (auf deutsch Darknet). Aufmerksam geworden war ich auf die Bücher über dieses Interview von Frank Rieger mit dem Autor – sehr, sehr lesenswert.

Daemon and Freedom(TM) Cover

Das Buch ist auf mehreren Ebenen faszinierend. Zunächst ist es kaum aus der Hand zu legen; es ist leicht geschrieben, voller Spannung, wechselnder Erzählperspektiven, verständlicher Dialoge, kleiner Nebenbei-Geschichten. Dennoch ist Suarez kein großer Literat. Gerade zum Ende der beiden Bücher kommen Wörter wie perimeter und operative gefühlt auf jeder Seite mehrfach vor.

Ich lese wenig bis gar kein Science Fiction. So wie Matrix oder Password Swordfish zwar nette Filme waren – jedem, der sich ein bisschen mit Computern auskennt, graut es davor, zu sehen, wie Computer dargestellt werden. – Ganz anders in den Romanen: Hier kommen auch Kenner auf ihre Kosten. Das fängt an bei Kapiteln die Pwned oder Epic Failure heißen, und geht bis hin zu Hackern, die wirklich hacken: Kein "er tippte wild vor sich hin" um ein WLAN zu knacken – der Protagonist sitzt in seinem Auto mit Laptop, sieht ein WPA-Netzwerk, und snifft via einer Deauth-Attacke die WPA-Handshakes, und wartet dreieinhalb Stunden darauf, bis sein Rechner die Keys aus diesen errechnet hat. Wie man halt ein WLAN knackt. Weitere Details, die den kenntnisrechen Leser erfreuen werden, sind eine (ausgeschriebene!) SQL-Injection-Attacke, ein SNMP-Buffer-Overflow in alten OpenBSD-Versionen sowie ein schlecht konfigurierter Nameserver, der AXFR erlaubt. – Kurz: Ein Autor, der seine Hausaufgaben gemacht hat. So auch Frank Rieger in dem Interview:

Vieles, was Sie beschreiben, ist wirklich technisch möglich, es finden sich praktisch keine Fehler in Ihrem Buch.

Untergründig werden immer wieder gesellschaftliche Misstände, die wir nur allzugern im täglichen Leben ausblenden, eingestreut. Das ist zum einen die Fast-Allmacht der Hochfinanz und die ständig steigende Effizienz von Produktionszyklen zu Lasten der Diversität und damit der Robustheit. Ein nicht unwesentlicher Teil im ersten Band thematisiert auch das (gerade in den USA besonders bedeutende) Thema der Privatisierung von Gefängnissen: moderner, inländischer Sklaverei. Nicht zuletzt wird häufig auf Economic Hitmen und deren Dienste zum Aufstieg der globalen Wirtschaftsmacht USA hingewiesen; im Literatur-Anhang wird auch John Perkins' Buch Confessions of an Economic Hitman referenziert, dass ich mehrmals gelesen habe, und das sehr zu empfehlen ist.

Suarez dazu im Interview:

Aber es läuft etwas sehr schief, wenn die häufigste Quelle großen Reichtums heute darauf beruht, dass man im Finanzsystem zockt, Mittelschichtjobs vernichtet und keinerlei materiellen Wert erschafft.

Was das Buch so spannent macht, ist, dass die Technik, um eine wie dort beschriebene Welt zu erschaffen, prinizpiell schon da ist. Das ist aber auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Diese Review beispielsweise meint:

The [logic decision] tree necessary to handle the daemon would be astronomically complex and I don't think any one, no matter how many resources they had, could put such a thing together.

Doch das ist ein Fehlschluss. In der Angangsphase – man könnte es auch Bootstrapping nennen – waren sicherlich gewisse Elemente im Entscheidungsbaum hart codiert (Auswahl des Polizisten z.B.). Aber jeder, der einmal probiert hat, eine AI für ein Spiel zu programmieren, weiß: Man wird nie alle Fälle abdecken. Und selbst für die wenigen "offensichtlichen" Fälle ist die Logik schon unglaublich komplex. – Der Schlüssel des ganzen liegt natürlich im Maschinellen Lernen und Crowdsourcing.

Suarez: In seiner ursprünglichen, noch nicht in die Crowd ausgelagerten Verkörperung verfügte der Daemon über eine kurze Liste von Zielen: erstens Unternehmensnetzwerke infizieren; zweitens menschliche Gefolgsleute finden (unter Verwendung von Konsumentendaten und sozialen Netzwerken); und drittens die Aktivitäten der menschlichen Gefolgsleute nutzen, um Aufgaben auszuführen.

Diese menschlichen Gefolgsleute aber sind es gerade, die den weiteren Entscheidungsbaum (wenn man ihn denn so nennen will) nachhaltig gestalten. Sie geben (als Gemeinde) die Ziele vor, die zu erreichen sind, und "upvoten" die Gedankenströmungen und Menschen, denen sie zustimmen. – Und dass eine simples "like" oder "don't like" bei genügend Ausgangsmaterial eine relativ eindeutige Signatur hinterlässt, das kennen wir schon jetzt: Das ist "Die folgenden Kunden kauften auch..." bei Amazon; die Lieder- und Videovorschläge in diversen Multimedia-Plattformen; die richtigen und ausführlichen Antworten bei StackOverflow ganz oben.

Das Schlüsselkonzept hinter dem gesamten Darknet ist Aggregation. Auch heute haben wir all diese Daten schon, aber wir können sie (zumindest als Privaterson) nur unzureichen aggregieren. Doch dass das möglich ist, zeigt sich in Ansätzen: Da muss man nur mal einen Namen bei Personensuchmaschinen eingeben, und schon erhält man die veröffentlichten Artikel, MP3s, Blogposts, Facebook-Account, Amazon-Wunschzettel, E-Mail-Adressen, ... – Die Daten sind alle da. Insofern erscheint die geradezu utopische (bzw. dystopische) Aggregation, Filterung und Aufbereitung der Daten, wie sie in den Romanen dargestellt wird, gar nicht mehr so unwahrscheinlich, wenn man nur bedenkt, dass es ein System ist, an dem eher Zehntausende denn Tausende Leute mitprogrammiert haben – und dass eine Menge Geld darein investiert wurde.

Ein Manko hat die Erzählung allerdings: Sie ist viel zu sehr Amerika-zentriert. Zwar wird ganz peripher Europa erwähnt, und einige wenige Szenen spielen auch im Ausland. Doch prinzipiell sind es im Wesentlichen die amerikanischen Dienste, und später die amerikanische Bevölkerung, die sich mit dem Daemon auseinandersetzt.

Alles in Allem liefern die Bücher eine Meneg Stoff zum Nachdenken, und einige simple, aber äußerst wichtige Wahrheiten.

Suarez: Die Natur bestraft einzelne Fehlschläge, weil ein gewisses Maß an Fehlschlägen unvermeidlich ist. Wir sollten daher in erster Linie zu vermeiden versuchen, dass Fehlschläge sich kaskadenförmig ausbreiten, und unsere Fähigkeit verbessern, uns von solchen Fehlschlägen rasch zu erholen.

Dringende Leseempfehlung.

posted 2011-08-22 tagged bookdump and life

Unendlicher Spaß

Ziemlich genau einen Monat habe ich gebraucht, um die über 1500 Seiten vom Unendlichen Spaß von DFW durchzuarbeiten. Im Jahr 2009 erschienen ja zwei deutsche Übersetzungen von "Meilensteinen der modernen Literaturgeschichte": Bolaños 2666 und eben DFWs Unendlicher Spaß. 2666 hatte ich schon letztes Jahr gelesen – und nun, da ich mein großes Projekt abgeschlossen hatte, konnte ich mich endlich an den Spaß wagen.

Der Roman ist grandios. Liest man den Klappentext, denkt man, einige Leute wären auf der Suche nach einem Film, der einem so viel und langanhaltend Spaß bereitet, dass man daran stirbt. Allerdings geht es darum eigentlich gar nicht. Oder schon, teilweise.

Cover 'Unendlicher Spaß'

Das Buch beginnt unvermittelt, geht unvermittelt weiter, und endet auch irgendwie unvermittelt. So richtig gibt es keine Handlung, aber das spielt auch eigentlich gar keine Rolle, ob es nun eine wirkliche Handlung gibt.

Das ganze Buch ist, analog zu den "Aprèsgarde"-Filmen James Orin Incandenzas, dem verstorbenen Vater eines der Protagonisten, antikonfluentieller Natur, zerfasert. (Siehe dafür auch ab S. 92 sowie Fußnote 24.) Die dutzende von Handlungssträngen finden teilweise ein ganz wenig, manchmal auch nur als Teil von Erinnerungen, Halluzinationen oder Träumen zusammen, oder häufig halt auch gar nicht bzw. nur durch Ähnlichkeit der Situationen oder Dialoge.

Insgesamt besticht das Buch durch die diversen textlichen Stilelemente, grandiose Sätze, faszinierenden Detailreichtum – der meist nichts wesentliches zur Geschichte beiträgt, aber gerade deshalb so faszinierend ist – und nicht zuletzt durch äußerst eindrückliche Beschreibungen von Sucht und Depression und der damit einhergehenden Verzweiflung.

Zur Lesetechnik: Die fast 400 Fußnoten sind wesentlich für das Verständnis des Buches. Die Paperback-Ausgabe hat leider keine Lesezeichen, so dass ich dringend empfehle, das Buch mit zwei Lesezeichen zu lesen. Dafür eignet sich z.B. auch gut dieses Diagramm aller handelnden Personen und ihrer Verbindung zueinander – einfach ausdrucken und an der richtigen Stelle in den Fußnotenapparat legen.

Nach dem Lesen des Buches würde ich unbedingt noch einmal die ersten beiden Kapitel lesen, was eine sehr aufschlussreiche Erfahrung ist. Auch weitere Fragestellungen oder eine Interpretation des Endes können dann hilfreich sein.

Eine Sache, die mich noch immer verwirrt: Manche Kapitel haben einen kleinen Kreis über dem Titel, dessen eines Viertel auch auf der Seite, auf der die Anmerkungen beginnen, wiederholt wird. Hier gibt es eine Auflistung der Kapitel mit entsprechender Markierung. – Was bedeutet der Kreis?

posted 2011-07-29 tagged bookdump and life

Bookdump

Ich hatte mir ja vorgenommen, zu dokumentieren, welche Bücher ich lese, und was ich dazu denke – ganz schön ehrgeizig! Nun fällt es mir aber schwer, alle Bücher, die ich in den vergangenen drei Monaten gelesen habe, einzeln zu beschreiben. Daher hier ein "Bookdump" der Bücher, deren Titel ich zumindest noch erinnere (denn das ist meist ein gutes Zeichen!).

le Carré: Out Kind of Traitor, ganz nett, kommt aber m.E. nicht an die früheren Bücher (z.B. "A perfect Spy") heran; dafür interessant modernes Setting – Lenin: Was tun?Alaa al-Aswani: Der Jakubijân-BauAnonymous: Traktat über die drei Betrüger, für Interessierte der Religionskritik ein "Grundlagendokument" – Enzensberger: Versuch über den radikalen Verlierer, leider nur ein Versuch, ruhig überraschen lassen ohne den Klappentext zu lesen! – Schätzing: Limit, schwach, nachdem mir sein Erstling eigentlich gut gefallen hatte.

Schneller lesen, besser verstehen – In der U3 auf dem Weg zur FU Berlin sowie dort in der Mensa kann man kaum der grell-orangen Werbung entkommen, die einem den Kurs zum Besseren Lesen verkaufen wollen. Da mich das Thema interessiert, habe ich mir für einen Zehner das Buch zum Kurs gekauft. Leider (oder zum Glück!) lag ich in den Einstufungsselbsttests noch über dem, was das Buch als Ziel versprach. Es war allerdings interessant zu reflektieren, wie Menschen eigentlich lesen. Gerade für Viel-Leser an der Uni sicherlich ein Gewinn, wenn man denn die Zeit investiert...

Chomsky: Hopes and ProspectsChomsky & Pappé: Gaza in Crisis – Die beiden neusten Chomsky'schen Essaysammlungen sind nach alter Manier langweilig und iteriert. (Was der Notwendig- und Richtigkeit der Darstellung natürlich keinen Abbruch tut! – Chomsky ist nunmal offensichtlich nicht an mitreißenden Formulierungen interessiert. Er ist Dokumentar, kein Literat.) Was allerdings in meinen Augen neu ist, ist die Aktualität, mit der Chomsky über gerade mal wenige Monate zurückliegende Ereignisse reflektiert. Auch findet er einmal ausführliche und klare Worte zum Thema Israel/Gaza, was im Wesentlichen dem entspricht, was sein Protégée Norman G. Finkelstein bisher dazu veröffentlicht hat; die Zusammenarbeit mit Pappé bereichert das Buch außerdem ungemein. Leseempfehlung, unbedingte!

Schmidt-Salomon: Jenseits von Gut und Böse – Ich hatte Schmidt-Salomon bei einer Podiumsdiskussion in der Urania vor einigen Wochen gesehen, in der er einige der Thesen seines Buches debattierte. Während sich die beiden Diskutierenden sehr an Kleinigkeiten aufhängten, hat das Buch bei mir einen sehr "vollendeten" Eindruck hinterlassen: Eine wissenschaftlich-atheistische Weltsicht, untermauert und motiviert durch Empirie und Logik. Am interessantesten fand ich übrigens das Nachwort zur fünften Auflage, wo Schmidt-Salomon das Emergenzprinzip diskutiert. – Nachdem ich diesen Versuch von Prechts, mit "Wer bin ich, und wenn ja wie viele?" Philosophie massentauglich zu vermarkten, eher nicht so gelungen fand, erscheint mit dieser offensichtlich von Nietzsche beeinflusste Titel (und nicht nur der Titel) als gelungen. In gewissem Maße ist es auch eine Anleitung zum Glücklich-sein.

posted 2011-06-13 tagged bookdump

Buch – Wohlstand für viele

Ich versuche, von nun an jedes Buch, das ich gelesen habe (und lesenswert finde) hier mehr oder weniger ausführlich zu besprechen.

Jeffrey D. Sachs: Wohlstand für viele

Gerade eben bin ich mit dem Buch "Wohlstand für viele" von Jeffrey D. Sachs fertig geworden. Das Buch könnte man wohl gut als populärwissenschaftliche, breit aufgestellte Einführung in Makroökonomie, Geographie und Umweltschutz bezeichnen. In jedem Fall lesenswert!

Sachs, der unter anderem vier Jahre Lang leider des UN-Projektes zur Umsetzung der Millenium-Entwicklungs-Ziele war, beschreibt anhand vieler Beispiele im großen und kleinen, wie funktionierende internationale Zusammenarbeit zu Themen wie Umweltschutz, Klimawandel oder Entwicklungshilfe ausehen sollte.

Viele der Phänomene und Probleme, die Sachs anspricht, kannte ich bzw. habe sie schon selbst erlebt in Tansania. Zwei Sachen waren allerdings fast völlig neu für mich:

Sachs erläutert außerdem einige Thesen, die nicht gerade neu, aber auch nicht wirklich im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert sind: Dass das Öl ausgeht, ist nicht das Problem, sondern, dass wir zu langsam auf neue Energieträger migrieren; Ein Umschwung im Kampf gegen den Klimawandel kann man beschleunigen, wenn man nur entsprechende finanzielle Mittel für die Forschung bereitstellt; Entwicklungshilfe führt nicht zu apathischer Empfängermentalität in Drittweltstaaten; Gut geplante und entsprechend finanzierte Entwicklungshilfeprojekte lassen sich durchaus in großem Stile (also z.B. landesweit, und nicht nur regional stark begrenzt) erfolgreich durchführen; Erwirtschaftung von Reichtum muss nicht auf Kosten Mittelloser (sprich: Ausbeutung) basieren.

Interessanterweise preist Sachs besonders Informationstechnologie als Entwicklungskatalysator an. Das Internet auf der einen Seite, vor allem aber unterstreicht er wiederholt die Nützlichkeit eines funktionierenden Mobilfunknetzes, gerade in ländlichen Regionen. (Siehe auch die Grameen Bank, die "Erfinder der Mikrokredite", die das Projekt "Village Phone" initiiert haben.) – Dass Kommunikationstechnologie ein solcher Entwicklungskatalysator ist, war mir zwar klar, allerdings hatte ich bisher nie das Gefühl, dass das auf "höheren Ebenen" und von den (meist älteren) Leuten, die etwas zu sagen haben, auch so gesehen wird.

Das Buch ist leider wenig kritisch. Es wird nie adäquat auf die Rolle von großen Lobbyorganisationen und Interessensverbänden eingegangen, die die Politik häufig in Bahnen lenken, die nicht unbedingt vom (kritischen) Volk gutgeheißen werden. Leider scheint doch vielfach das Bild des "Zahnlosen Papiertigers UN" durch.

posted 2011-01-22 tagged bookdump and entwicklungspolitik