Im Sudan hatte ich viel Zeit und Muße, und habe den absoluten Klassiker, die Illuminatus Trilogy von Rober Shea & Robert Anton Wilson gelesen – zum mittlerweile dritten Mal. Ich lese eigentlich Romane generell nur einmal, aber dieses Buch ist anders als jedes andere Fiktionswerk, dass ich sonst kenne: Wild springend in Raum, Zeit, Person und Erzählstil lässt es einen im einen Moment laut auflachen, im nächsten aber in angestrengtes Nachdenken verfallen. Ich zähle es nach wie vor zu meinen absoluten Lieblingsbüchern. – In Cairo gab es nur wenig englische Literatur zu kaufen, daher musste ein Klassiker her: Charles Dickens' Oliver Twist ist eine ganz nette Geschichte, die ich aber nach zwei Dritteln dann auch gar nicht so zwingend zu Ende lesen musste und es daher gelassen habe.
Der neue 1000-Seiten-Wälzer von Neal Stephenson, REAMDE, ist, obwohl er spannend ist, leider mit 300 Seiten zu lang geraten. Die anfängliche Geschichte – das MMORPG T'Rain, das die Chinesen anzieht, könnte tatsächlich in ein paar Jahren Wirklichkeit werden – ist sehr gut gelungen, besonders die Charaktäre Dodge und Sokolov. Aber in etwa ab dem Abflug aus Manila und dem Moment, in dem Olivia Sokolov "rettet", ufert die Geschichte leider aus. Zu viele Unwahrscheinlichkeiten, zuviel doppelt erzählte Szenen aus verschiedenen Blickwinkeln – der Showdown hätte gut in einer Stadt stattfinden können und nur 70 Seiten brauchen müssen. – Und: Ohne zu wissen, warum, fühlt sich das dauernde Wikipedia/Twitter/Facebook-Namedropping nach dem dritten Mal ziemlich gezwungen an und trägt nichts zur Geschichte bei. Die Interaktion mit Computern und das "Hacking" wird allerdings meist ziemlich realitätsnah dargestellt, was man bei Stephenson aber auch erwarten darf.
Einen weiteren Klassiker von Bret Easton Ellis habe ich mit American Psycho gelesen. Der Film ist natürlich sehr bekannt, aber das Buch gibt auch eine gute Vorlage ab: Eine kranke Welt, in der es normalerweise nur um Reservierungen in Edelrestaurants geht, ab und zu aber auch um Alkohol, Visitenkarten oder eben den Mord an einem Obdachlosen oder einer Hure.
En passant habe ich dann noch Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich von David Foster Wallace gelesen, was gar nicht so schrecklich amüsant war, aber doch nett. Wenn man gerne Menschen beobachtet und über ihre Intentionen und Hintergründe philosophiert, dann findet man hier einen Gleichgesinnten.
Insgesamt drei der kürzeren Bücher von Noam Chomsky habe ich gelesen. Die Piper-Ausgabe Profit over People / War against People scheint ein Klasiker unter den deutschen Chomsky-Übersetzungen dazustellen. Die beiden 1999 geschriebenen, eher kurzen und überraschend bissigen Bücher behandeln im Wesentlichen den Neoliberalismus, der "der erste und unmittelbare Feind wirklicher Demokratie ist ... [woran] sich auf absehbare Zeit auch nichts ändern [wird]" (aus der Einleitung von McChesney). – Die großen Themen sind bekannt, besonders im Vordergrund stehen Nicaragua und Kuba. Das Gesamtbild sowie die beschriebenen Fälle finden sich großteils schon in Year 501: The Conquest Continues; doch hat Chomsky in diesen beiden Büchern einige wirklich schlagkräftige und unintentionell realitätsnahe Zitate zu seinem Steckenpferd erkoren und wird nicht müde, sie ständig zu wiederholen. Und auch noch ein Jahrzehnt später, besonders in Bezug auf die Finanzkrise, ist das Schlusswort absolut richtig:
Die sozioökonomische Ordnung, die jetzt von oben verfügt wird, ist das Ergebnis der Entscheidung von Menschen, die in von Menschen gesschaffenen Institutionen wirken. Die Entscheidungen können widerrufen, die Institutionen verändert werden. Sollte es sich als notwendig erweisen, können sie zerschlagen und ersetzt werden. Das haben aufrechte und mutige Menschen im Laufe der Geschichte immer wieder vollbracht. [S. 150, WaP]
Von wegen als: TINA (there is no alternative) – oder, wie man zu Neudeutsch sagt: alternativlos.
Making the Future ist eine Ende Februar 2012 erschiene Sammlung von in der New York Times erschienenen Artikeln aus dem Zeitraum April 2007–Oktober 2011. Das Buch eignet sich sicherlich gut als Einstieg in Chomskys Werk, denn die Artikel sind überschaubar, in sich abgeschlossen und gut verständlich. Für mich persönlich war es noch einmal interessant, markante Ereignisse und Entscheidungen dieser Zeit (z.B. die Ernennung Obamas zum Präsidenten, sein Friedensnobelpreis; die Gaza-Flottilla; WikiLeaks' CableGate; Somalische Piraten; die Finanzkrise; den Arab Spring) zu rekapitulieren und auch zu sehen, wie Tatsachen, die ich soweit ich mich erinnere erst später erfahren habe, schon zu den jeweiligen Zeitpunkten absehbar waren. – Teilweise wiederholen sich ganze Absätze oder Formulierungsbausteine. Der folgende Absatz aus Chomskys am Ende des Buches abgedruckten Occupy Boston-Rede vom Ende Oktober 2011 lässt den Titel des Buches gerechtfertigt erscheinen.
Karl Marx famously said that the task is not just to understand the world but to change it. A variant to keep in mind is that if you want to change the world you'd better try to understand it. That doesn't mean just listening to a talk or reading a book, though that's helpful sometimes. You learn from participating. You learn from others. You learn from all the people you're trying to organize. We all have to gain the understanding and the experience to formulate and implement ideas and plans as to how to move forward.
Jetzt lese ich wieder ein bisschen an meiner Dostojewski-Gesamtausgabe, momentan: Der Idiot.