Fast den ganzen Sommer – 88 Tage, um genau zu sein – habe ich für die Lektüre von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gebraucht. Drei Monate also, in denen ich täglich ein bis zwei Stunden in der Belle Époque im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts verbracht habe. Und nun, 4.195 Seiten später, ist das Abenteuer zu Ende. Was für eine Erfahrung!
Natürlich gibt es viel zu sagen zu einem solchen Buch, das regelmäßig als der »Roman der Romane« in den Listen der Bücher auftaucht, die man gelesen haben muss. Und auch ich erinnere mich noch gut, wie ich mit 18 Jahren – retrospektiv betrachtet war ich natürlich noch zu jung dafür – nach den ersten paar Dutzend Seiten (zunächst) ergebnisloser Landschftsbeschreibung das Buch gähnend weggelegt habe und mich Interessanterem gewidmet habe (wie es vermutlich Vielen geht, doch dazu weiter unten mehr) – und doch bin ich dadurch, dass mir in verschiedenen Kontexten immer wieder dieses Werk über den Weg lief Anfang dieses Sommers darauf gekommen, dass ich es doch noch einmal versuchen sollte. Angesichts des schieren Umfangs des Romans muss man sich nun einmal bewusst machen, dass das, was in einer 400-Seiten-Erzählung eine zehnseitige Exposition eines Vorortes samt seiner Bewohner ausmacht, hier entsprechend skaliert gute 100 Seiten ausmacht. Mit diesem Wissen gewappnet aber verliert man die Erwartungshaltung um eine sich nun doch hoffentlich bald herauskristallisierenden Handlung, und dieser Schritt tut dringend Not. Denn erst später – das heißt im zweiten, dritten, vierten Buch, und nicht mal dann in aller Gänze – erschließen sich dem Leser die zentralen Themen des Werkes. Wer aber so lange durchhält, wird reich belohnt.
Ich will aber hier nur einen zentralen Aspekt herausgreifen, und zwar den des Selbstmitleides des Protagonisten angesichts seiner Eifersucht. Schon früh erkennt ja der Leser, dass der Erzähler rückblickend seine damalige Weltsicht zu rekonstruieren versucht, zum Zeitpunkt des Aufschreibens aber schon sehr viel weiter ist mit seinen Gefühlen bezüglich der Liebe und Eifersucht gegenüber seiner Geliebten. Insbesondere ist schon zu dem Zeitpunkt klar, dass all diese den Erzähler so unglaublich leidend machenden Empfindungen späterhin vergessen sein werden. Genau dieser zeitliche Zusammenhang aber hat mich sehr mitgenommen: Es ist, als durchlebe man noch einmal im kleinsten Detail und mit Kenntnis der Zukunft diejenigen Leiden (und Fehler), die einen prägen, und die doch später als Gefühl, nicht jedoch als Erfahrung bedeutungslos geworden sind. Es ist in diesem Teil des Buches, dass der Erzähler eine große Wahrheit über die Welt, die Wesen, die sich in ihr bewegen und im Verhältnis dazu den Standpunkt des Betrachters erfährt:
Wir besitzen von der Welt nur formlose, fragmentarische Vorstellungen, die wir durch willkürliche Ideenassoziationen vervollständigen, aus denen sich gefährliche Suggestionen ergeben.
Wie aber kann man diese fragmentarischen Vorstellungen zu einem großen Ganzen zusammenführen? Am Ende des Buches, während der abschließenden Matinée, geht der Erzähler in einem vorausgreifenden Blick bereits auf die Kritiker seines Romans ein, als er sagt:
Da, wo ich die großen Gesetze suchte, glaubte man in mir jemanden zu sehen, der nach Einzelheiten grub.
Es ist genau dieses ständige Suchen nach Einzelheiten, um damit universelles zu illustrieren, das fasziniert. So sei in den Augen Adornos „Rettendes zu hoffen von der Rezeption eines Dichters, der das Exemplarische vereint mit dem Avancierten“.
Was mich durchaus irritiert hat bei der Nachlese zu diesem Buch war, wie sehr anscheinend meine Leseerfahrung von denen Anderer abweicht. Wird in den Feuilletons Proust angeführt, so zielt der Absatz fast unweigerlich auf die Erinnerung des Erzählers beim Genuss einer Madeleine oder des ihm vorenthaltenen Kusses der Mutter ab – beides Szenen, die zwar unglaublich detailliert im ersten Teil des ersten Buches dargestellt werden (und auf die später noch vielfach zurückgeblickt wird) – so als seien dies die zentralen Momente, die das Werk ausmachen. Mit Blick auf das gesamte Werk kommen mir gerade diese Stellen aber doch vergleichsweise wenig gehaltvoll vor. Die Aspekte des Romans, die ihn in meinen Augen großartig machen, sind vor allem die minutiös, in Zeit vor und zurück springend analysierten sozialen Dramen der Gesellschaft, durchaus nicht frei von Selbstironie; und natürlich der alles durchdringende Komplex von Liebe, Leidenschaft, Betrug und Eifersucht. Ist das nicht das, was den Leser an existentiellen Wahrheiten teilhaben lässt? Warum konzentriert sich also die Rezeption so sehr auf die unwillkührlichen Erinnerungen, die nun einmal punktuell und höchst individuell sind? – Vielleicht muss man den Grund darin suchen, dass einige dieser Autoren nicht weiter vorgedrungen sind als bis zu diesen Episoden; oder aber ich habe das Buch einfach mit einem ganz anderen Fokus gelesen.
Über einige Eindrücke bin ich während der Lektüre im Unklaren geblieben. Am Ende zumindest der ersten vier Bücher (bzw. den jeweils zwei Teilen, die sie ausmachen) hat mich jedes Mal ein Gefühl der Unvermitteltheit getroffen: Wie, aber die Geschichte geht doch gerade erst los?, habe ich jedes Mal gedacht. Ist das gewollt? Oder ist es das Gefühl eines Marathonläufers, der beim Anblick der Ziellinie denkt: Schon? – Des weiteren musste ich bei einigen Passagen herzhaft lachen und zuweilen auch den Kopf schütteln ob der Selbstreferenzialität, Provinzialität und Unfortschrittlichkeit der Personen und Gesellschaften. Es wirkt, als sei das sprichwörtliche Brett vorm Kopf sichtbar gemacht durch die Art und Weise, wie der Erzähler scheinbar teilnahmslos aus den »Skandalen« der lokalen gesellschaftlichen Prominenz berichtet, ganz im Stile Dostojewskis. Aber gerade diese »Unbeschwertheit« im Umgang mit Proust – dass man also über die Gesellschaftskarikaturen und den Autor selbst lachen kann – scheint nicht gerade unumstritten zu sein, meint Proust-Neu-Übersetzer Michael Kleeberg.
Wie viel muss man über Proust wissen, um das Werk gewinnbringend zu lesen? Ich habe im Nachhinein ein wenig in seiner Biographie gestöbert, fand das aber nicht wirklich aufschlussreich. Ja, je mehr man liest, desto mehr meint man, der Roman sei tatsächlich ein autobiografisches Kompendium. Aber ändert das etwas? Ich glaube nicht. – Im übrigen ist ausgerechnet Roland Barthes – von dem der einflussreiche Aufsatz »Der Tod des Autors« stammt – ein großer Proust-Anhänger gewesen, der der Meinung war, nach diesem finalen Monument des Romans habe es keinen Sinn mehr, einen weiteren zu schreiben, und seinen dahingehenden Versuch in Vorlesungsnotizen umgearbeitet hat.
Der Schriftsteller gebraucht nur ganz unaufrichtig in der Sprache der Vorreden und der Widmungen gewohnheitsmäßig die Wendung: ›Mein lieber Leser.‹ In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können. Daß der Leser das, was das Buch aussagt, in sich selbst erkennt, ist der Beweis für die Wahrheit eben dieses Buches, und umgekehrt gilt das gleiche, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, da die Differenz zwischen den beiden Texten sehr oft nicht dem Autor, sondern dem Leser zur Last gelegt werden muss.
Wer die Zeit und Ausdauer hat, dem sei die Lektüre empfohlen.