Julius Plenz – Blog

Musil

Ich habe in den letzten drei Monaten alle veröffentlichten Werke von Robert Musil gelesen, sowie zwei kleine Bücher mit Tagebuchfragmenten und Briefen des Autors. Irgendwie habe ich die Lektüre noch nicht in Gänze verarbeitet; aber vielleicht hilf es ein wenig, darüber zu schreiben, um ein bisschen zu beleuchten, was mich an diesem Autor fasziniert.

Man kommt bei Musil nicht umhin, ihn für seinen Stil zu loben: Wie mathematisch-präzise, wie realistisch! Niemals wird ein Ding ver-klärt, um es zu er-klären – lieber wird auf eine genaue Charakterisierung verzichtet zugunsten einer rigorosen, aber bruchstückhaften, teilweise zu keinem eindeutigen Schluss kommenden Behandlung.

Der Stil ist aber für Musil nur Mittel zum Zweck:

Ich wäre dem Publikum sehr dankbar, wenn es weniger meine ästhetischen Qualitäten beachten würde und mehr meinen Willen. Stil ist für mich die exakte Herausarbeitung eines Gedankens.

Musil ist generell sehr anstrengend zu lesen, und die Bücher liegen mir auch Monate nach der Lektüre noch sperrig im Kopf; ich konnte mir bisher kein abschließendes Urteil zu dem literarischen Werk dieses Autors bilden. Daher muss es an dieser Stelle genügen, ein paar Gedanken und Zitate zu den Büchern aufzulisten, in der Reihenfolge, in der ich sie gelesen habe.

Der Mann ohne Eigenschaften

Lang, in der Mitte fast einschläfernd, aber besonders im Nachhinein ein unglaubliches Buch. Die Präzision, mit der Musil schreibt, ist beeindruckend: Gedanken, die ich selbst schon wage hatte, werden dort so detailliert und umfassend dargestellt, dass ich mehrere Kapitel wieder gelesen habe und teilweise nach Tagen noch ein mir im Kopf herumspukendes Zitat rausgeschrieben habe. Wäre es nicht so lang, würde ich es gleich noch einmal lesen.

Die Hauptperson des Buches, der Mathematiker und Philosoph Ulrich, ist ein Charakter, der mir selbst sehr ähnlich scheint. Das ständige Es-könnte-auch-anders-sein, das sich immer Wiederholende Suchen nach strukturellen Gründen, nach ursprünglichen Prinzipien, die sich bei näherer Betrachtung als Trugschlüsse erweisen – dieses Ohne-Eigenschaften-Sein – aber in einem positiven Sinne! – trifft auch auf mich zu. Die Dinge passieren um uns, und wir werden geformt: nicht umgekehrt.

Ein Paradestück der Analyse ist zum Beispiel dieser Abschnitt aus dem Kapitel 34, Ein heißer Strahl und erkaltete Wände:

Im Grunde wissen in den Jahren der Lebensmitte wenig Menschen mehr, wie sie eigentlich zu sich selbst gekommen sind, zu ihren Vergnügungen, ihrer Weltanschauung, ihrer Frau, ihrem Charakter, Beruf und ihren Erfolgen, aber sie haben das Gefühl, daß sie betrogen worden seien, denn man kann nirgends einen zureichenden Grund dafür entdecken, daß alles gerade so kam, wie es gekommen ist; es hätte auch anders kommen können; die Ereignisse sind ja zum wenisten von ihnen selbst ausgegangen, meistens hingen sie von allerhand Umständen ab, von der Laune, dem Leben, dem Tod ganz anderer Menschen, und sind gleichsam bloß im gegebenen Zeitpunkt auf sie zugeeilt. So lag in der Jugend das Leben noch wie ein unerschöpflicher Morgen vor ihnen, nach allen Seiten voll von Möglichkeiten und Nichts, und schon am Mittag ist mit einemmal etwas da, das beanspruchen darf, nun ihr Leben zu sein, und das ist im ganzen doch so überraschend, wie wenn eines Tags plötzlich ein Mensch dasitzt, mit dem man zwanzig Jahre lang korrespondiert hat, ohne ihn zu kennen, und man hat ihn sich ganz anders vorgestellt.

Vergleiche auch die Fabel Kafkas Über die Einengung der Maus, in der die Katze sagt: „Du musst doch bloß die Laufrichtung ändern!“ – Der Abschnitt geht weiter mit:

Noch viel sonderbarer aber ist es, daß die meisten Menschen das gar nicht bemerken; sie adoptieren den Mann, der zu ihnen gekommen ist, dessen Leben sich in sie eingelebt hat, seine Erlebnisse erscheinen ihnen jetzt als der Ausdruck ihrer Eigenschaften, und sein Schicksal ist ihr Verdienst oder Unglück.

Im Nachhinein bleibt vor allem das Antiklimaktische des Buches hängen: Musil sagte selbst über den Roman: „Die Geschichte dieses Romans kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird.“

Warum passierte denn nichts, warum fing Ulrich nichts mit seinen so wohldurchdachten Erkenntnissen an? Aber auch diese Frage wird ja beantwortet im Gespräch mit Agathe:

»Weshalb sind wir denn keine Realisten?« fragte sich Ulrich. Sie waren es beide nicht, weder er noch sie, daran ließen ihre Gedanken und Handlungen längst nicht mehr zweifeln; aber Nihilisten und Aktivisten waren sie, und bald das eine bald das andere, je nachdem wie es kam.

Gott ist tot: Das Nietzsche’sche Denken durchtränkt das Buch (explizit bei Clarisse; praktischer und struktureller bei Ulrich, der sich der Unzulänglichkeiten der Moral und der Unbestimmbarkeit von absolutem Gut und Böse längst verschrieben hat). Es ist auch ein gutes Stück Entfremdung darin, aber einer geistigen Art (also nicht im Marx’schen Sinne): Vielmehr eine Erkenntnis der Nicht-Erkennbarkeit der Welt, und auf diese Erkenntnis folgt nicht der Aufbau neuer Sinn-Kathedralen, sondern ein zerfaserndes, dielektisches Verneinen dessen, was „die Leute“ tun, ohne erkennbares Ziel außer wissenschaftlicher Strenge allem was „ist“ gegenüber.

Es ist definitiv ein philosophischer Roman – aber es fühlt sich ganz anders an, als wenn man Philosophie liest:

[Ulrich] war kein Philosoph. Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren.

Und so bleibt alles fragmentarisch, aphoristisch, essayistisch – doch gleichzeitig vermittelt das Buch, dass dies die einzige Betrachtungsweise der Welt ist, die man zu rechtfertigen in der Lage ist. (Interessant, dass Ulrich gar keine zynischen Züge trägt.)

Vielleicht ist es das für mich bisher bedeutendste Buch, das ich gelesen habe.

Einige der Kapitel, gerade in der ersten Hälfte, kann man fast kontextlos lesen und verstehen. Zu empfehlen sind zum Beispiel:

Tagebücher und Briefe

Aus den Tagebüchern (Suhrkamp-Edition 1963): Beeindruckendes Essay-Fragment „Aus dem stilisierten Jahrhundert (Die Straße)“ über die 2x2=4-Welt der Leute, wie man diese Welt transzendiert und doch wieder erwacht, ohne den Finger darauf legen zu können, wie man „diesen Leuten“ eigentlich voraus ist (und ob man es überhaupt ist: doch das Gefühl bleibt).

Und immer wieder das Strukturelle, z.B. in folgender Selbstbeobachtung:

Am nächsten komme ich der Beschreibung meines Gedächtnisses (und auch meiner Phantasievorstellung) mit folgendem: Ich stelle in jeder Hinsicht unanschaulich vor, etwa in »Sachverhalten«. Ich merke mir auch selten Einzelheiten, sondern immer nur irgendeinen Sinn der Sache. Aus den Sachverhalten, die ganz formlos da sind, fast nicht da sind, bilden sich auf eine Weise, die ich nicht analysiert habe, die Aussagen.

Ich glaube, daß ich deshalb auch so schwer schreibe.

Und:

Ich sehe nicht ein, warum man in Begriffen sich verständigen soll, statt in Vorstellungen. Ich würde mich – vielleicht – lieber – in Vorstellungen verständigen, wenn es ginge. Man soll mir widersprechen.

Eine weitere Selbstbeobachtung:

Ich glaube, ich habe keine Moral. Grund: Mir wird alles zu Bruchstücken eines theoretischen Systems. Die Philosophie habe ich aber aufgegeben, so fällt die Berechtigung weg. Es bleiben nur: Einfälle. –

Das Musil-Lesebuch (Rowohlt 1991) muss man nicht unbedingt gelesen haben; Fragmente der Romane, die man besser ganz liest. Aber ein paar der bekannten kurzen Essays, die in dem Suhrkamp-Buch fehlen.

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

In der Neuausgabe des MoE von Anaconda waren einige OCR-Scan-bedingte Satzfehler; die habe ich an den Verlag geschickt, der sich prompt dafür bedankte, indem ich mir ein Buch meiner Wahl aus dem Sortiment aussuchen konnte: Den Törleß. (Übrigens eine schöne Ausgabe mit Leseband!)

Ich hatte das Buch einmal in der Schule gelesen, ohne mich darum zu kümmern. Tatsächlich ist es ein beeindruckendes Portrait einer Unsicherheit, die vielleicht nicht alle Menschen nur in der Pubertät ereilt: Die Welt zwischen Wissen und Fühlen, dass die Dinge eigentlich viel tiefer sind, als Umstehende ihnen zugestehen wollen. Interessant, wie die imaginären Zahlen, die – zumindest für einen Schüler – so berechtigungslos und doch nützlich in der Mathematik auftauchen, als Aufhänger dienen.

Erzählungen und Theaterstücke

Drei Frauen – „Grigia“ schön kafkaesk; die anderen beiden haben keinen Eindruck auf mich gemacht.

Vereinigungen – „Die Vollendung der Liebe“: Kann man die Genesis eines Gedanken überhaupt so genau beschreiben? Die Zugfahrt, während derer sie den Einfall eines Seitensprunges erhält, ist meisterhaft. – Die zweite Erzählung ist mir zu voll von „tierisch“ und tiefen, wabernden Gedanken, die irgendwann klein und hart und fest werden. Generell etwas, was mich in den frühen Werken stört, weil ich damit nichts anfangen kann.

Die Schwärmer (Theaterstück) – Schwer. Interessant. Schwer bestimmbare Charaktere. Ich würde die Wirkung des Stücks gerne mal auf der Bühne sehen. Zwei Zitate:

Alles hat einen Riß, wenn man klug ist und nicht glaubt?

Und:

Das menschlichste Geheimnis der Musik ist ja nicht, daß sie Musik ist, sondern daß es mit Hilfe eines getrockneten Schafdarms gelingt, uns Gott nahe zu bringen.

posted 2013-12-02 tagged bookdump and musil