Es ist eine ganze Weile vergangen, und ich habe sicherlich schon wieder ein paar vergessen…
Bei der Neuerscheinung von Noam Chomskys How the World Works handelt es sich um eine Kollektion von ein paar alten Texten und aufbereiteten Interviews aus den 1990er Jahren. Zwei Exzerpte:
Recall that about ten years ago, when David Stockman [director of the Office of Management and Budget in the early Reagan years] was kicked out, he had some interviews with economic journalist William Greider. There Stockman pretty much said that the idea was to try to put a cap on social spending, simply by debt. There would always be plenty to subsidize the rich. But they wouldn’t be able to pay aid to mothers with dependent children—only aid to dependent corporate executives.
Und:
You still find plenty of poor, uneducated people smoking; in fact, tobacco has become such a lower-class drug that some legal historians are predicting that it will become illegal. Over the centuries, when some substance became associated with “the dangerous class,” it’s often been outlawed. Prohibition of alcohol in [the US] was, in part, aimed at working-class people in New York City saloons and the like. The rich kept drinking as much as they wanted.
William S. Burroughs vielgefeiertes Naked Lunch – Na, zum Glück war das Buch so kurz. Einfach nur bizarr. Ich mag schon eigentlich ganz gerne, wenn eine Art von Geschichte erzählt wird. – Besser gefiel mir da schon Jack Kerouacs On The Road, aber wirklich bewegt hat es mich auch nicht.
Dave Eggers: The Circle – Das liest man so an einem Sonntag weg. Nett geschrieben und die Handlung gut vorhersehbar, aber es ist ein jetzt aktuelles Zeitgeist-Portrait und wird als solches in ein paar Jahren vermutlich seine Aktualität verloren haben.
James C. Scott: Seeing Like a State – Ein Agrarwissenschaftler verliert sich für ein paar Jahre in einem Thema, das ziemlich interessant ist, und fasst seine Erkenntnisse in einem sehr zugänglichen Sachbuch zusammen. Das Buch ist ein Aufruf, Diversität zu zelebrieren, und Lokales Wissen (insbesondere im Kontext indigener Völker) zu respektieren, erhalten und aktiv zu verwenden. Grundthema des Buches ist die „legibility of a population“, für die man soziale und Umwelt-Verhältnisse normalerweise metrisiert, das heißt in vergleichbaren Zahlen ausdrückt (Hektar Norm-Wald, Bildungs-Index, Populationsquerschnitt, etc.). Scott untersucht einige Beispiele eingehender, und die Schlussfolgerung lässt sich in etwa wie folgt zusammenzufassen: „Die Metrik ist nicht nur zu simpel, sie ist so simpel, dass sie der Bevölkerung aktiv schadet und neue, dieser Metrik angepasste Realitäten kreiert.“ – Lesenswert, wenn man sich für so ein Thema begeistern kann.
Nachdem ich Huxley noch einmal gelesen hatte, musste ich zum Vergleich auch noch mal Orwells Roman 1984 lesen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass Huxley „mehr“ Recht hat in unserer momentanen Entwicklung – aber man muss Orwell zugute halten, dass seine Erfindung von „Newspeak“ sehr vorausschauend und auch heute noch hochaktuell ist.
David Benioffs Bestseller Stadt der Diebe ist ein schönes Buch über eine Freundschaft in Zeiten des Krieges – aber auf gewisse Weise ein Weltkriegsbuch, das sehr an andere seit den 2000ern erschienen Romane zu diesem Thema erinnert. Es ist eine gewisse Leichtigkeit darin, die vorher nicht möglich war, aber keinesfalls mehr neu ist.
Per Petterson: Out Stealing Horses – Ein überraschend schöner Roman. Ferienliteratur, finde ich. – Für Khaleed Hosseinis Roman A Thousand Splendid Suns bin ich glaube ich doch ein bisschen die falsche Zielgruppe. Mich hat das Buch auf jeden Fall nicht so sehr berührt, und es bleibt beim Lesen ein fader Beigeschmack ähnlich wie wenn man als Tourist in „exotischen Ländern“ das Kreuzfahrtschiff für ein paar Stunden verlässt, und auf die oberflächlichst mögliche Weise eine „Kultur kennen lernt“. –
Glenn Greenwald: No Place to Hide ist ein wichtiges Buch. Wenn man die Enthüllungen ein bisschen verfolgt hat, kennt man schon einen großen Teil des dargestellten Bildes (aber Microsoft kommt wirklich ganz schön schlecht weg). Die ersten 90 Seiten über die Kontaktaufnahme mit Snowden sind der reinste Krimi. Der letzte Teil ist ein wenig zu viel Rumgeheule von Greenwald.
Thomas Pynchon: Gravity’s Rainbow – Was soll man zu dem Buch bloß sagen…? Die ersten dreihundert Seiten sind komplett verwirrend. Gegen Mitte scheint sich ein kohärenter Plot zu entwickeln – aber das lässt schnell wieder nach. Ab Seite 700 war ich nur noch darüber wütend, was für eine Zeitverschwendung das Buch sei. Die Witze sind anfangs vielleicht noch zum Schmunzeln… aber irgendwann reicht’s dann auch, und „witzige Situationen“ wie die folgende: Eine Frau wird ausgeraubt, hat aber einen Sprachdefekt und kann keine Umlaute aussprechen, und ruft statt „Hübsch Räuber“ – ja, man errät es, „Hubsch Rauber“, „Hubschrauber“, haha, was dann jemanden ein paar Häuser weiter (es ist 1920, niemand weiß was ein Hubschrauber ist…), der zufällig Aerodynamik studiert (ah!), dazu veranlasst, etwas zu tun – naja, eine solche Situation finde ich nur noch lustig, weil es so schlecht erzwungen ist.
Zugestehen muss man Pynchon aber, dass er über eine schier unglaubliche Allgemeinbildung verfügen muss. Das Buch driftet mitunter in Richtungen ab, die komplett unerwartet kommen: An einem Nachmittag sitze ich in einem kleinen Park in Neukölln am Lesen, und plötzlich spielt die Geschichte auch in Neukölln – das ist schon ziemlich verrückt, und ein bisschen frage ich mich, ob ich nicht einen Großteil der Referenzen nicht verstanden habe. Und auch ein relativ unbekannter Aspekt der deutschen Kolonialgeschichte, der Genozid der Herero durch deutsche Kolonialherren im heutigen Namibia – für den sich die deutsche Bundesregierung im Übrigen bis heute noch nicht verantwortlich fühlt – spielt eine nicht unbedeutende Rolle.
Max Frisch: Homo Faber – John Williams: Stoner, ein wirklich beeindruckendes weil unprätentiöses Buch. – Kazuo Ishiguro: Never Let Me Go, hatte ich schon als Film gesehen, daher kam es mir die ganze Zeit bekannt vor. Nicht wirklich zu empfehlen… – Cynan Jones: The Long Dry, einer von den „Neuentdeckungen“, aber mich hat’s nicht so mitgenommen. – Ned Vinzinni: It’s kind of a funny story, da war ich auch nicht ganz die richtige Zielgruppe, aber es beleuchtet einen wichtigen Punkt: Die Angst vor dem Versagen, die wir schon jungen Erwachsenen einbläuen. – Hubert Selby Jr.: The Room – Damit konnte ich nichts anfangen. – Hermann Hesse: Siddhartha – Jaja, mythologisch-romantisch… aber nicht sein bestes Werk. – Strugatski: Der Montag fängt am Samstag an, kann man lesen. Muss man aber nicht.
Angeregt von Franzens Essay Mr Difficult, habe ich William Gaddis’ Roman The Recognitions gelesen… Mir hat’s gut gefallen, auch wenn es an einigen Stellen arg verwirrend war – man könnte zum Beispiel erwähnen, dass der vollkommen passive Hauptcharakter nach ca. einem Drittel des Buches seinen Namen verliert (vergisst?), und so die wörtliche Rede, die sowieso nur mit Gedankenstrichen angedeutet wird und nicht indiziert, wer redet, noch unüberschaubarer wird, weil der Protagonist entweder gar nicht mehr direkt, oder nur mit „my dear fellow“ angeredet wird. Insgesamt liest sich das Buch wie eine 50er-Jahre-Hipster-Party, durchsetzt von unauflöslichem, allgemeinen Weltzweifel – gespickt mit einer guten Portion christlichem Mystizismus.
Um mich ein bisschen zu bilden, habe ich auch einen der Kurzgeschichtenbände der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro gelesen: Runaway gefiel mir gut, vor allem, weil nicht immer ganz klar war, wie sehr die Geschichten nun wirklich zusammenhängen.
Robert Charles Wilson: Spin – Das hat mich eine ganze Nacht wachgehalten. Sehr spannend. Mehr Science Fiction? Ein Freund schenkte mir Richard Morgans Altered Carbon, das auch empfehlenswert ist.
Eine Neueentdeckung für mich war Knut Hamsun: Ich habe Hunger und anschließend die Mysterien gelesen. Erinnert mich ein bisschen an Dostojewski, nur halt nicht so russisch.
Den Tod Frank Schirrmachers habe ich als herben Verlust empfunden. Ich habe aus jedem seiner Feuilleton-Artikel neue Denkanstöße mitnehmen können. Ähnlich ging es mir mit Ego – Spiel des Lebens, definitiv lesenswert, vor allem aufgrund der historischen Perspektive, die es bietet.
Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wie ich dazu kam, mir ein klassisches Tennis-Selbsthilfe-Buch auf meine Liste zu schreiben. Aber auch außerhalb von Tennis (oder Sport überhaupt) bietet W. Timothy Gallweys 100-Seiter The Inner Game of Tennis gute Ratschläge: „Zu viel Nachdenken ist hinderlich für Exzellenz.“
Ein Freund interessiert sich dafür, wie man fernöstliche Ideen mit westlicher Philosophie verbinden kann und hat mir Alan Watts geschenkt, Das Tao der Philosophie. Ich finde den Stil zu sehr wie eine aufgezeichnete Radioansprache, die auch Erna (83) aus Norderstedt verstehen soll.
Über alle Maßen beeindruckt war ich hingegen von Adorno/Horkheimers Werk Dialektik der Aufklärung. Dialektik ist ein ziemlich facettenreicher Begriff, aber beim Lesen dieses Textes habe ich das erste Mal meisterhafte Dialektiker bei der Arbeit sehen können. Man muss allerdings sagen, dass der Text nicht einfach zu lesen ist. Ich musste dauernd Wörter nachschlagen, und das bisweilen unnötigerweise, denn die Autoren benutzen hochgestochene Begriffe wie Fungibilität und Usance, anstatt einfach Austauschbarkeit und Eigenschaft. Auch tendieren sie dazu, Sätze sehr kompliziert zu schachteln und Prozesse zu subjektifizieren, so dass man häufig zweimal nachdenken muss, was gemeint ist – dann wird man aber belohnt. Kostprobe gefällig?
In der Reduktion des Denkens auf mathematische Apparatur ist die Sanktion der Welt als ihres eigenen Maßes beschlossen. Was als Triumph subjektiver Rationalität erscheint, die Unterwerfung alles Seienden unter den logischen Formalismus, wird mit der gehorsamen Unterordnung der Vernunft unters unmittelbar Vorfindliche erkauft. Das Vorfindliche als solches zu begreifen, den Gegebenheiten nicht bloß ihre abstrakten raumzeitlichen Beziehungen abzumerken, bei denen man sie dann packen kann, sondern sie im Gegenteil als die Oberfläche, als vermittelte Begriffsmomente zu denken, die sich erst in der Entfaltung ihres gesellschaftlichen, historischen, menschlichen Sinnes erfüllen – der ganze Anspruch der Erkenntnis wird preisgegeben.
Ich hatte kurz vorher die Odyssee gelesen, insofern gefiel mir auch besonders der Exkurs über die Dialektik von Mythos und Aufklärung am Beispiele von Odysseus. Was ich mich frage ist: Inwieweit hat Homer diese Dialektik durchschaut? Es ließ sich für mich aus dem Text nicht herauslesen, ob die Autoren Homers Text neu interpretieren, oder ihm nur etwas ablesen, dessen Tiefgründigkeit bisher nicht als solche erkannt wurde.