Julius Plenz – Blog

Ulysses

Ich war kürzlich zum ersten Mal in Dublin, und das war Grund genug, mich endlich einmal mit dem modernistischen Epos Ulysses von James Joyce auseinanderzusetzen. Anstatt hier aber zu schreiben: ja, es ist ziemlich anstrengend zu lesen – ja, ohne kapitelweise Sekundär-Zusammenfassungen hätte ich kaum etwas verstanden – ja, es ist sprachgewaltig und auch ziemlich witzig – ja, es ist ein stilistisches und formales Kunstwerk – ja, das war mein zweiter und letzter Versuch, ein Joyce-Fan zu werden und nein, ich werde die anschließend von ihm verfassten Monströsitäten nicht angehen ––

Anstatt also zu wiederholen, was man überall liest, hier im Folgenden der Versuch, zwei zentrale Werke des Modernismus einander gegenüber zu stellen und in Beziehung zu setzen: Ulysses versus Der Mann ohne Eigenschaften. Beide Werke sind recht umfangreich, was aber ja nicht unbedingt abschreckend ist: nur sind sie auch beide kompliziert und sperrig. Joyces Werk nicht so sehr aufgrund der Handlung, sondern der Form: Selten wird der Leser an die Hand genommen, immer muss man aus dem Dialog den Kontext erraten oder bekommt nur rohe Gedanken serviert. Bei Musil wird hingegen ständig reiteriert und Kontext gegeben, mit einer sprachlicher Brillianz die seinesgleichen sucht: nur sind die Gedanken sehr diffiziler philosophisch-dialektischer Natur.

Beide Werke haben eine interessante Gemeinsamkeit: sie sind, ganz in modernistischer Manier, exakt konstruiert in der Zeitspanne, die sie abdecken (– die Form bestimmt den Rahmen): Ulysses ist die Geschichte eines einzigen Tages in Dublin, während der Mann ohne Eigenschaften genau ein Jahr in Wien verlebt (streng genommen: verleben würde, wenn das Buch je zu Ende geschrieben worden wäre). Im letzteren Fall ist ganz klar, wann die Handlung stattfindet, denn das Buch beginnt mit folgendem ersten Absatz:

Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.

Bei Joyce muss man arg suchen, wenn man wissen will, an welchem Tag die Handlung spielt: Man schreibt das mittlerweile als Bloomsday bekannte und gefeierte Datum des 16. Juni 1904 – das wird aber, abgesehen von kurz vor Schluss, nirgends klar kommuniziert. Man kann sich diese Information zum Beispiel aus den folgenden Fragmenten aus Kapitel drei und vier zusammenstückeln, tief in wirren Gedankengängen vergraben:

He took the hilt of his ashplant, lunging with it softly, dallying still. Yes, evening will find itself in me, without me. All days make their end. By the way next when is it Tuesday will be the longest day. Of all the glad new year, mother, the rum tum tiddledy tum. Lawn Tennyson, gentleman poet. … (Dedalus musing in 3.489)

He listened to her licking lap. Ham and eggs, no. No good eggs with this drouth. Want pure fresh water. Thursday: not a good day either for a mutton kidney at Buckley's. Fried with butter, a shake of pepper. Better a pork kidney at Dlugacz's. While the kettle is boiling. She lapped slower, then licking the saucer clean. Why are their tongues so rough? To lap better, all porous holes. Nothing she can eat? He glanced round him. No. (Bloom in 4.43)

Wir haben es also mit einem Donnerstag fünf Tage vor dem längsten Tag der nördlichen Hemisphäre, dem 21. Juni, zu tun. Welches Jahr? Na ja, da gäbe es mehrere Möglichkeiten: Der 16. Juni fiel zwischen den Jahren 1880 und 1920 auf einen Donnerstag in: 1881, 1887, 1892, 1898, 1904, 1910, sowie 1921. Andere Hinweise?

He faced about and, standing between the awnings, held out his right hand at arm's length towards the sun. Wanted to try that often. Yes: completely. The tip of his little finger blotted out the sun's disk. Must be the focus where the rays cross. If I had black glasses. Interesting. There was a lot of talk about those sunspots when we were in Lombard street west. Looking up from the back garden. Terrific explosions they are. There will be a total eclipse this year: autumn some time. (Bloom thinking in 8.564)

Aber Wikipedia sagt interessanterweise: „There was no Total Solar Eclipse visible from the United Kingdom between 1724 and 1925.“ – Schließlich aber, im vorletzten Kapitel (auch wenn das Datum ab der Mitte an verschiedenen Stellen, aber nicht eindeutig zuordenbar auftaucht) wird es explizit: „Compile the budget for 16 June 1904.“ (17.1456)


Beide Werke erwähnen wiederholt Nietzsche als Philosophen oder Teile seiner Werke: In Ulysses wird mehrmals aus Zarathustra zitiert; Ulrich schenkt Clarisse zu ihrer Hochzeit eine Gesamtausgabe von Nietzsche. Ein ganz zentrales Moment Nietzsche’scher Philosophie ist die auf die griechischen Götter Apollo und Dionysos zurückgehende Dialektik apollinisch-dionysisch. Was bedeutet dionysisch? Das Handwörterbuch der Philosophie erklärt das Wort wie folgt:

Von Dionysos, dem griech. Gott des Weines: neben dem Apollinischen die Personifizierung eines der beiden die Geschicke der Welt lenkenden Prinzipien bei Nietzsche. Während das Apollinische für das Streben nach Begrenzung, nach Maß und Gestalt steht, verkörpert das Dionysische den Drang ins Ungebundene, das Rauschhafte und Ausufernde, das, was die Grenzen aufhebt, die Form zerstört und das Gestalthafte in den Weltgrund zurückwirft.

Während die apollinische Betrachtungsweise also die der Wissenschaft, die der exakten Beschreibung und Klassifizierung, schließlich der Rationalität ist, ist die die dionysische eine des Trunkenen, Orgiastischen: Der Urzustand des Menschen spricht aus dem Un- und Unterbewussten.

Dies führt mich zur folgendenden, zentralen These: Die Herangehensweise Musils ist inhärent apollinisch, während die von Joyce ein meisterhaftes Beispiel für das Dionysische ist. Als Beispiel möchte ich hier eine Szene anführen, die in beiden Büchern beiläufig vorkommt: Männlicher Protagonist trifft ihm unbekannte Frau in der Öffentlichkeit und hat ein spontanes sexuelles Verlangen nach ihr. Nebeneinander gelesen sind diese Ausschnitte hervorragende Beispiele für die Idiosynkrasie der jeweiligen Erzähltechniken.

In Ulysses (4.145) ist Bloom gerade auf dem Weg, für sein Frühstück Leber vom Fleischer zu besorgen:

A kidney oozed bloodgouts on the willowpatterned dish: the last. He stood by the nextdoor girl at the counter. Would she buy it too, calling the items from a slip in her hand? Chapped: washingsoda. And a pound and a half of Denny's sausages. His eyes rested on her vigorous hips. Woods his name is. Wonder what he does. Wife is oldish. New blood. No followers allowed. Strong pair of arms. Whacking a carpet on the clothesline. She does whack it, by George. The way her crooked skirt swings at each whack.

[…]

The porkbutcher snapped two sheets from the pile, wrapped up her prime sausages and made a red grimace.

—Now, my miss, he said.

She tendered a coin, smiling boldly, holding her thick wrist out.

—Thank you, my miss. And one shilling threepence change. For you, please?

Mr Bloom pointed quickly. To catch up and walk behind her if she went slowly, behind her moving hams. Pleasant to see first thing in the morning. Hurry up, damn it. Make hay while the sun shines. She stood outside the shop in sunlight and sauntered lazily to the right. He sighed down his nose: they never understand. Sodachapped hands. Crusted toenails too. Brown scapulars in tatters, defending her both ways. The sting of disregard glowed to weak pleasure within his breast. For another: a constable off duty cuddling her in Eccles lane. They like them sizeable. Prime sausage. O please, Mr Policeman, I'm lost in the wood.

—Threepence, please.

His hand accepted the moist tender gland and slid it into a sidepocket. Then it fetched up three coins from his trousers' pocket and laid them on the rubber prickles. They lay, were read quickly and quickly slid, disc by disc, into the till.

—Thank you, sir. Another time.

A speck of eager fire from foxeyes thanked him. He withdrew his gaze after an instant. No: better not: another time.

—Good morning, he said, moving away.

—Good morning, sir.

No sign. Gone. What matter?

He walked back along Dorset street, reading gravely. […]

Joyce verbalisiert einfach nur das im Kopf Stattfindende, mit all der damit einhergehenden Sprunghaftigkeit, Ungeduldigkeit und vor allem Unreflektiertheit: Wäre es nicht interessant zu untersuchen, wie aus einem sting of disregard innerhalb von Momenten eine Art Verlangen wird? All das interessiert aber offenbar nicht, und außerdem muss er ja bezahlen. Und schon sind die Gedanken wieder woanders, und er liest im Nachhausegehen…

Musil hingegen benutzt eine ganz ähnlich zufällige Begegnung, um – durchaus als Ablenkung, vorher wird ein ganz anderer Gedankengang gesponnen – um zu reflektieren, wie die Nächstenliebe eigentlich ein heuchlerisches Konzept ist, und überhaupt: warum mag man überhaupt Menschen, ohne dass man sie wirklich gut kennt?! Das liest sich dann aber, wie man so schön sagt, „wie gedruckt“ (3. Teil, Kap. 23):

[… es] fehlte seinem Denken bereits die Absicht, eine Entscheidung zu suchen, und er ließ sich bereitwillig ablenken. In seiner Nähe waren gerade zwei Männer zusammengestoßen und riefen sich unangenehme Bemerkungen zu, als wollten sie handgemein werden, woran er mit erfrischter Aufmerksamkeit teilnahm, und als er sich kaum davon abgewandt hatte, stieß sein Blick mit dem einer Frau zusammen, der wie eine fette, auf dem Stengel nickende Blume war. In jener angenehmen Laune, die sich zu gleichen Mengen aus Gefühl und nach außen gerichteter Aufmerksamkeit mischt, nahm er Kenntnis davon, daß die ideale Forderung, seinen Nächsten zu lieben, unter wirklichen Menschen in zwei Teilen befolgt wird, deren erster darin besteht, daß man seine Mitmenschen nicht leiden kann, während das der zweite dadurch wettmacht, daß man zu ihrer einen Hälfte in sexuelle Beziehungen gerät. Ohne zu überlegen, kehrte auch er nach wenigen Schritten um, der Frau zu folgen; es geschah noch ganz mechanisch als Folge der Berührung durch ihren Blick. Er sah ihre Gestalt unter dem Kleid wie einen großen weißen Fisch vor sich, der nahe der Wasseroberfläche ist. Er wünschte sich, ihn männlich zu harpunieren und zappeln sehen zu können, und es lag darin ebensoviel Abneigung wie Verlangen. An kaum merklichen Zeichen wurde ihm auch Gewißheit, daß diese Frau von seinem Hinterdreinstreichen wisse und es billige. Er suchte zu ermitteln, auf welchen Platz sie in der gesellschaftlichen Schichtung gehören möge, und riet auf höheren Mittelstand, wo es schwer ist, die Stellung genau zu bestimmen. »Kaufmannsfamilie? Beamtenfamilie?« fragte er sich. Aber verschiedene Bilder tauchten willkürlich auf, darunter sogar das einer Apotheke: er fühlte den scharf-süßen Geruch an dem Mann, der nach Hause kommt; die kompakte Atmosphäre des Heims, der nichts mehr von den Zuckungen anzumerken ist, unter denen sie kurz vorher die Diebslampe eines Einbrechers durchleuchtet hat. Ohne Zweifel war das abscheulich und doch ehrlos lockend.

Und während Ulrich weiter hinter der Frau herging und in Wahrheit fürchtete, daß sie vor einer Auslage stehen bleiben und ihn zwingen werde, entweder blöde weiterzustolpern oder sie anzusprechen, war irgendetwas immer noch unabgelenkt und hellwach in ihm. »Was mag eigentlich Agathe von mir wollen?« […]

Ähnlich wie Proust ist Musil ein Autor, der wie mit einem Spot-Scheinwerfer ganz bestimmte Winkel einer sehr weiten Zeitspanne ausleuchtet: Nur nebenbei wird das Jahr des Urlaubs chronologisiert, meist dient dies nur als Überleitung zu einer Situation, die es Musil (in Gestalt von Ulrich, meist denkend alleine oder im Quasimonolog) erlaubt, mehrere Dutzend Seiten bei einem Gedankengang zu verharren. Ulysses ist hier die Antithese, hier gehen große sozialphilosophische Thesen einfach unter, weil es nachts ist und alle Gesprächsteilnehmer sturzbetrunken sind:

BLOOM: I stand for the reform of municipal morals and the plain ten commandments. New worlds for old. Union of all, jew, moslem and gentile. Three acres and a cow for all childern of nature. Saloon motor hearses. Compulsory manual labour for all. All parks open to the public day and night. Electric dishscrubbers. Tuberculosis, lunacy, war and mendicancy must now cease. General amnesty, weekly carnival with masked licence, bonuses for all, esperanto the universal language with universal brotherhood. No more patriotism of barspongers and dropsical impostors. Free money, free rent, free love and a free lay church in a free lay state.

(Anschließend fängt Bloom an zu singen und jemand schmeißt einen Schuh nach ihm. Wobei das vielleicht auch nur in Gedanken passiert, man weiß das nicht so genau. Zugehört hat ihm in jedem Fall niemand so wirklich.) –

Schließlich ist neben dem Gegensatz Apollinisch–Dionysisch ein weiteres zentrales Motiv der Philosophie Nietzsches die unbedingte und nicht immer rationalisierbare Bejahung des Lebens, ein ständiges und insistierendes Ja-Sagen zum Leben – eine im Kern anti-nihilistische Haltung. Joyce lässt Ulysses ganz bewusst mit dem Wort “Yes” enden (auch wenn die Intention dahinter zugegebenermaßen nicht unbedingt lebensbejahned ist: statt dessen komplettiert das Wort laut eines Briefen von Joyce an Frank Budgen den das Kapitel durchziehenden verbalen Symbolismus für das Weibliche). – Im Gegensatz dazu erschafft der Mann ohne Eigenschaften eine große philosophische Apparatur, um die Lebensbejahung zu rationalisieren – tut dann aber nicht den entscheidenden Schritt der Verwirklichung: Das Buch bleibt unvollendet.

posted 2015-08-15 tagged bookdump